Question Time am vergangenen Mittwoch: Wie immer, wenn sich die britische Premierministerin den Fragen der Abgeordneten stellen muss, ist der Saal voll, die Stimmung aufgedreht. Im Zentrum steht der EU-Austritt, Oppositionschef Jeremy Corbyn unterstellt der Regierung Inkompetenz, die Schottische Nationalpartei wettert gegen den Tory-Brexit, der Schottland in den Abgrund zu reißen droht. Als Nächster springt Nigel Adams auf die Füße, Abgeordneter für den Wahlkreis Selby und Ainsty: “Kann ich die Premierministerin im Namen aller Bewohner von Selby dringend bitten, die Kampagne für den stufenlosen Zugang zum Bahnhof von Selby zu unterstützen?” Gelächter im Saal. Eine derartige Banalität inmitten des weltbewegenden Umbruchs, den der EU-Austritt darstellt, das mutet witzig an.
Doch die Reaktion verweist auf ein Problem: In der Aufregung um den Brexit vergisst man in Westminster zuweilen, dass die Normalbürger in ihrem Alltag ganz andere Prioritäten haben und die Vorgänge im Parlament nur am Rand wahrnehmen. Selbst die hitzigen Debatten rund um den EU-Austritt lassen viele kalt. Umgekehrt hat der Brexit in Westminster den Effekt, dass etliche soziale Probleme, die vielen Bürgerinnen und Bürgern näherstehen, auf der Strecke bleiben oder von der Tagesordnung gedrängt werden. Dabei geht es um weit mehr als stufenlose Bahnhofseingänge: Das gesamte soziale Gefüge in der fünftreichsten Volkswirtschaft liegt arg schief.
Am frappantesten sind die Statistiken zur Armut. Rund 14 Millionen Menschen in Großbritannien werden als arm eingestuft, 1,5 Millionen gelten als mittellos, das heißt, sie können sich kaum lebensnotwendige Güter leisten. Laut neuen Zahlen des Arbeitsministeriums ist die Zahl der Kinder, die in absoluter Armut leben, im vergangenen Jahr um 200.000 gewachsen; auch steigt die Zahl der Haushalte in relativer Armut: 4,1 Millionen Kinder – das sind 30 Prozent –, leben in Haushalten, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienen. Im Dezember warnten Lehrerverbände, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler hungrig und ohne angemessene Winterkleidung zur Schule kommen.
“Großes Elend”, vor allem für die Kinder
Die zunehmende Verarmung ist insbesondere auf steigende Preise für Alltagsgüter sowie schnell wachsende Wohnkosten zurückzuführen – und hier liegt auch das nächste Problem: Die seit vielen Jahren anhaltende Wohnungskrise verschlimmert sich weiter. Die Stiftung Resolution Foundation hat errechnet, dass in England auf 1.000 Familien nur 825 Wohnungen kommen – so wenige wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1991. Um die Lücke zu füllen und der künftigen Nachfrage gerecht zu werden, müssten laut der National Housing Federation pro Jahr 340.000 Häuser gebaut werden; 2017 bis 2018 wurden lediglich 195.000 fertiggestellt.
Insbesondere fehlt es an Wohnraum, den sich Normalverdienende leisten können. Der Mangel an günstiger Behausung ist ein Grund, weshalb immer mehr Menschen in temporären Wohnungen unterkommen oder auf der Straße übernachten müssen. Im vergangenen Jahr ist die Obdachlosigkeit um vier Prozent auf 320.000 Betroffene angestiegen (die Zahl umfasst sowohl rough sleepers, die im Freien übernachten, als auch Frauen und Männer, die keine feste Bleibe haben). Die Obdachlosenstiftung Shelter nennt steigende Mieten sowie Kürzungen der Sozialhilfe als weitere Ursachen.
Als der UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut, Philip Alston, im vergangenen Jahr Großbritannien besuchte, war sein Fazit vernichtend: Die britische Regierung habe mit ihrer “knausrigen und herzlosen” Sozialpolitik “großes Elend” verursacht. Insbesondere sei das Ausmaß der Kinderarmut in diesem reichen Land eine Schande.
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