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Finsterwalde: Letzte Vorstellung später

Manchmal kommen Menschen in den Weltspiegel, die das Parkett des großen Saals durch einen Eingang betreten wollen, den es seit vier Jahrzehnten gar nicht mehr gibt. Maximilian Siegert schaut ihnen dann vom Ticketschalter aus nach, wie sie den Weg neben der Treppe nehmen wollen und stutzen. Dann weist er ihnen den richtigen Weg, geradeaus den Flur entlang, vorbei an dem Radeberger-Leuchtschild, den Drachenzähmenleicht-gemacht-Aufstellern und ein paar alten Barhockern. Als man noch auf dem anderen Weg in den großen Kinosaal kam, war der 31-jährige Siegert noch nicht mal geboren. Zeit ist eine komische Sache, sie vergeht im 107 Jahre alten Lichtspielhaus Weltspiegel in der südbrandenburgischen Kleinstadt Finsterwalde nicht langsamer als anderswo, aber vielleicht in etwas anderen Schritten. Ins Kino, diesen magischen Ort, an dem man sich selbst und die Welt um einen herum vergessen kann für zwei Stunden, zieht es einen immer mal wieder zurück. Bei manchen Leuten dauert es nur ein bisschen mit der Rückkehr dorthin.

Es ist sehr viel Geschichte hier im Weltspiegel, gelebte Filmhistorie zum Beispiel, aber zuvorderst ist da eine Familiengeschichte, die der Siegerts. Maximilian Siegerts Ururgroßvater Adolf Tonke war einer der drei Gründer, als im Jahr 1912 das Lichtspielhaus eröffnet wurde. Ein paar Generationen später ist das Kino immer noch (beziehungsweise wieder, zwischendurch gab es ja mal die DDR) in Familienbesitz. Siegerts Mutter Sabine macht die Buchhaltung, sein Vater Torsten führt die Geschäfte, er sucht auch die Filme aus. Und alle drei verkaufen abwechselnd Eintrittskarten und Popcorn. Irgendwann, eher früher als später, soll Maximilian den Laden übernehmen.

Vier Gesellschaftssysteme hat dieses Kino überstanden, im Kaiserreich wurde es eröffnet, es folgten die Weimarer Republik, die Nazidiktatur, schließlich der Sozialismus. Im Archivraum im ersten Stockwerk liegen noch vergilbte Filmprotokolle, die bis ins Jahr 1912 zurückreichen, das Eröffnungsjahr. Als das Kino zu DDR-Zeiten im Jahr 1972 verstaatlicht wurde, blieb es dennoch de facto in Familienhand, Torsten Siegerts Vater leitete es. Die Filmauswahl aber war damals durch einen einzigen Verleiher beschränkt, 60 Prozent der gezeigten Filme mussten aus sozialistischen Ländern stammen. Die Finsterwalder guckten dann in den Achtzigerjahren trotzdem lieber Dirty Dancing. Die Frage ist, was sie in den Zwanzigerjahren unseres Jahrhunderts sehen werden wollen. Und ob sie das noch im Weltspiegel tun werden.

Theoretisch sind die Finsterwalder überversorgt mit Filmen

Dieses Kino ist in mancherlei Hinsicht etwas Besonderes, in anderer wiederum gar nicht. Besonders ist zum Beispiel, dass das Kino mit den insgesamt rund 450 Plätzen in zwei Sälen, im großen finden knapp 350 Leute Platz, im kleinen exakt 99, eigentlich viel zu groß ist für eine Stadt mit nur 17.000 Einwohnern. Im Bundesschnitt kommen auf genau 17.094 Menschen eine Kinoleinwand, die Finsterwalder haben also eine mehr als die anderen Bundesbürger. Theoretisch sind sie doppelt versorgt mit Filmen, ja geradezu überversorgt.

Gar nicht besonders hingegen ist, dass der Weltspiegel im Jahr 2018 im Vergleich zum Jahr davor 13 Prozent weniger Besucher hatte, wie die Siegerts ausgerechnet haben. In dem Punkt liegt das Kino im ländlichen Finsterwalde, knapp eine Autostunde entfernt von Cottbus einerseits und von Dresden andererseits, fast genau im Bundestrend: 13,9 Prozent betrug laut der Filmförderungsanstalt (FFA) der Rückgang der Ticketverkäufe in Deutschland im Jahr 2018, 105,4 Millionen Besucher waren es insgesamt. Das Problem ist, dass der Abwärtstrend schon in den beiden Jahren zuvor ebenso heftig ausgefallen ist, knapp ein Drittel weniger Besucher gab es 2018 im Vergleich zum allerdings sehr guten Kinojahr 2015. Und zum ersten Mal seit Menschengedenken sind die Ticketpreise gesunken, um ein Prozent im vergangenen Jahr auf 8,54 Euro pro Karte.

Vier Hauptgründe haben die Siegerts für das schlechte Kinojahr 2018 ausgemacht: erstens die Fußball-WM; zweitens den Jahrhundertsommer, der die Kosten für die Klimaanlage in die Höhe getrieben habe, nicht aber die Einnahmen; drittens das Filmangebot, das aus Hollywood kam und nicht abwechslungsreich genug gewesen sei; und viertens den Erfolg der Streamingdienste – seit die Leute mit einem Klick zu Hause Filme und Serien schauen können, so viel sie wollen, mit einem Streamingabo, fällt es noch mehr von denen schwer, sich aus dem Fernsehsessel zu hieven und ins Kino zu gehen.

Die ersten drei Sachen kommen nicht jedes Jahr vor, das Wetter und die Hollywoodfilme sind mal besser und mal schlechter, und nur alle zwei Jahre ist ein großes Fußballturnier. Die Streamingdienste aber gehen nicht mehr weg. Es werden immer mehr.

Wie lange geht das noch gut?

Weniger Menschen also gehen ins Kino und bezahlen dafür weniger. Noch aber gibt es kein Kinosterben, das ist der kuriose Gegentrend: Die Zahl der Kinosäle steigt in Deutschland seit Jahren, wenn auch nur gering. Es werden mehr Kinos neu- oder wiedereröffnet als geschlossen. Es ist, als wehrten sich die Betreiber gegen den Besucherrückgang mit dem Bauen neuer Kinos. Die Frage ist, wie lange das noch gut geht. Und was passiert, wenn dann doch irgendwann mehr schließen werden müssen.

In der Großstadt Berlin, wo es laut FFA 96 Kinos gibt, würde das eine Weile lang vermutlich kaum auffallen. Im ganzen Bundesland Brandenburg hingegen gibt es nur 55 Kinos, und im Landkreis Elbe-Elster, in dem Finsterwalde liegt, nur ein einziges. Den Weltspiegel.

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