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Billie Eilish: Mit dem Willen zum Schmerz

Es war an einem Tag Mitte Februar, abends sollte die 17-jährige Sängerin
Billie Eilish (15 Millionen Instagram-Follower) ein Konzert in Berlin spielen. Eine Sängerin,
die zu diesem Zeitpunkt in Deutschland, abgesehen von Teenagern und ihren Eltern, eigentlich
kaum jemand kannte, von deren Superstar-Potenzial
(“Pop’s next It-Girl”,
Vogue,
“Artist to watch in 2019”,
New York Times)
ihre Plattenfirma aber so
überzeugt war, dass man vor einem Interview mit ihr ein sogenanntes Embargo unterschreiben
musste, wodurch man sich verpflichtete, weder über das Gespräch mit dem
superstar to
be

noch über dessen neues Album
When We All Fall Asleep, Where Do We Go
zu
berichten, bevor es am 29. März erscheinen würde. Spätestens da hatte man verstanden, dass
wirklich irgendetwas los war, ein Eindruck, den Lisa, 23, und Laura, 18, aus Lübeck kurz
darauf nur bestätigen würden. Die beiden saßen mit anderen Fans um die Mittagszeit auf
Campingstühlen vor dem Konzertveranstaltungsort und sahen dem Star, auf den sie warteten,
ziemlich ähnlich (weiße, bläulich schimmernde Elfenhaare, dunkle Kleidung, schwarze Doc Martens in Lack), abgesehen davon natürlich, dass sie viel lächelten, was Billie Eilish auf
Fotos aus Prinzip nicht tut
.

Lisa und Laura waren extra angereist, sie hatten jeweils 170 Euro in ein Ticket investiert und suchten, gefragt, warum sie sich das alles antaten, mit begeisterten Augen nach Erklärungen für ihre Billie-Eilish-Faszination. Sie sei so
“down to earth”
und “authentisch”, sie trage weite Sachen, wie ihre Trap-Rapper-Freunde, mit denen man sie auf Instagram rumhängen sehe, und zeige sich und ihre Pickel immer wieder auch “total ungeschminkt”.

Tatsächlich ist mit dieser Beschreibung ein wesentlicher Aspekt von Billie Eilishs USP (heißt
unique selling point,
also Alleinstellungsmerkmal, mit dem man Geld verdienen kann) umrissen: Denn wann immer es um die Sängerin geht, wird darauf hingewiesen, dass sie erstens ungewöhnlich “authentisch” sei (“unangepasste, depressive Gruselelfe”) und dass sie zweitens für ihr junges Alter so gute, erwachsene und darke Musik mache. Billie Eilish Pirate Baird O’Connell (bürgerlicher Name) ist das Kind von zwei nicht besonders erfolgreichen, aber wohl recht gut gelaunten Schauspielern aus Los Angeles, die “Pirate” als dritten Namen für ihre Tochter passend fanden und die sie außerdem in ihren Show-Business-Ambitionen früh unterstützten. Die Angaben darüber, in welchem Alter Billie Eilish ihren ersten Song geschrieben habe, schwanken zwischen vier, acht und elf, es wird also recht zielstrebig an dem Mythos eines Popgenies gearbeitet – jedenfalls hatte sie mit 14 Jahren ihren ersten Internet-Hit und 2017 die EP
Don’t Smile At Me. Darin sind die Themen von Billie Eilish schon sämtlich enthalten (Depressionen, Selbstzweifel, Schmerzen), und all das klingt wie schlauer Alternative Pop, der durch Lana Del Rey, Lorde, Florence Welch und, sehr wichtig, eine ganze Menge Hip-Hop (Tyler, the Creator, Childish Gambino, Missy Elliott) hindurchgegangen ist und darüber hinaus noch stark von Emo beeinflusst wurde, also jener Jugendkultur, die Rasierklingen in Form von Gürtelschnallen hervorgebracht hat und die von dem an stabiler Männlichkeit sehr interessierten Rap traditionell wegen ihrer Weichheit verachtet wird.

Das Rasierklingen-Moment ist nicht ganz unwichtig: Es steht in der Emo-Kultur für die Zurschaustellung eines Schmerzes, den die Welt nicht sehen will, was man ihr jedoch nicht durchgehen lässt, indem man sich etwa die Haut aufschneidet oder eben Rasierklingen als Gürtelschnallen (gibt es auch als Ohrringe) trägt. Billie Eilish kombiniert auf sehr interessante Weise das Interesse an den eigenen Schmerzen der eher weiblich konnotierten Emo-Kultur mit der breitbeinigen
fuck you attitude
ihrer Lieblingsrapper. Für sich genommen, ist beides in seinen härtesten Ausprägungen unerträglich, aber in dieser Kombination ist es fantastisch, wie eine neue Geschichte. Sie zeigt, wie man mit Würde leiden kann, was naturgemäß insbesondere für junge Frauen interessant ist, deren Schmerzvarianten immer eng mit einem passiven Opferdasein verbunden sind. Das von Billie Eilish dargestellte Leid ist eben nicht das eines Opfers, sondern wird getragen wie das Top-Statussymbol im Hip-Hop, die Halskette
(“The way I wear my noose / Like a necklace”,
die Schlinge um den Hals ist für sie auch nur teurer Schmuck).

Auch auf ihrem Debütalbum erzählt die Sängerin von ihren Schmerz-Erkundungen. Die Lyrics, die tatsächlich wirken, als habe da jemand sehr sorgfältig gearbeitet (Billie Eilish:
“Lyrics are sooooo important”),
beschreiben verschiedene Albträume, und folgerichtig erinnern auch die dazugehörigen Videos an Horrorfilme. Billie Eilishs Tanzbewegungen sehen aus wie die Zuckungen der Hauptfigur von
The Exorcist,
sie weint schwarze Tränen und Spinnen krabbeln ihr aus dem Mund. Vor allem aber sieht man ihr dabei zu, wie sie allein ist: weißer Hintergrund, in der Mitte Billie Eilish, Psychiatrie-Atmosphäre, also ein weiterer Gruß an ihre Probleme. Diese durchkomponierte Schmerzbegeisterung wird allerdings nicht nur durch den Rap-Einfluss kontrastiert, sondern eben auch und ganz wesentlich durch ihr Auftreten in Interviews, das, zusammen mit ihrem Willen zu Schmerz und
ugliness,
regelmäßig als speziell authentisch gelobt wird, worauf dann, ebenfalls regelmäßig, die Frage folgt, wie authentisch ein Star sein könne, der seine Authentizität zum Programm gemacht habe.

Lisa und Laura, die Fans, die draußen in der Kälte auf Billie Eilish warteten, wollten dagegen – OMG, du triffst sie??? – vor allem wissen, was die Skin-Care-Routine der Sängerin sei, also welche Pflegeprodukte sie benutze, und was Billie Eilish über ihre Erfahrungen mit ihrer unsichtbaren Zahnspange berichten könne. Billie Eilish
(“OMG, I love fan-questions”)
sagte, ihre Zahnkorrektur betreffend:
“You know what? I hated it at first. OMG. But it works soooo well!”
Was hätte wohl Britney Spears, also das absolute Gegenmodell zu Billie Eilish, auf diese Frage geantwortet? Vielleicht hätte sie gekichert, vielleicht hätte sie die Vokabel “hassen” nicht verwandt. Vielleicht hätte sie aber auch das Gleiche gesagt. Die Überzeugung jedenfalls, dass Billie Eilish so authentisch sei, entsteht wesentlich dadurch, dass sie tut, was Britney Spears damals nie tun durfte (Schönheitsidealen widersprechen, Probleme haben), und ist insofern die Antwort auf eine gesellschaftliche Entwicklung, die eine neue, fehlerhafte Inszenierung von jungen Frauen nachfragt, was ganz gute Nachrichten für Lisa und Laura sind. Dem Unperfekten vertraut man als Popkonsumentin intuitiv sofort und kann es ganz leicht für unverfälscht halten, obwohl es sich selbstverständlich auch um eine Inszenierung handelt, was aber trotzdem nichts an den guten Nachrichten für Lisa und Laura ändert und worum Billie Eilish natürlich weiß: In dem Song
Bury a Friend
spricht eines von ihren persönlichen Monstern zu ihr und fragt, ob es seine Arbeit als Psychoproblem denn zufriedenstellend, das heißt gewinnbringend verrichte.

Diese Inszenierung von inszenierter Authentizität ist ziemlich smart, war dann allerdings schwer in Einklang zu bringen mit dem großen, blassen Kind, dem man beim Interview gegenübersaß und das schon seit Stunden vermutlich recht ambitionierten Journalisten-Fragen ausgesetzt war (Trump? Feminismus?), dem es aber trotzdem und unter häufiger Nennung der Vokabeln
weird
und
annoying
gelang, ein paar ganz gute, superauthentische Teenager-Sätze rauszuhauen: “Ich sage im Internet nicht mehr, wie ich mich fühle. Ich habe nicht einmal mehr Twitter. So weit ist es gekommen” beziehungsweise “Kanye West hat die menschliche Sicht der Dinge grundlegend verändert” und
“The world is dark as fuck”.
Und vielleicht hatten sich Lisa, Laura und all die anderen Menschen an jenem Tag auf den Weg zu Billie Eilishs Konzert gemacht, um genau das zu feiern.

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