Das Café Wahlen liegt zwischen Rudolfplatz und Zülpicher
Platz. Der Zülpicher Platz ist gar keiner, sondern bloß eine Kreuzung. In Köln
heißt so manche Kreuzung Platz. Wahrscheinlich, weil da mal einer war. Und wenn
etwas nicht mehr da ist, kann man ja trotzdem weiterhin so tun, als ob. In Köln allemal.
Was ich an meinem Vater immer geschätzt habe, ist, dass er
nie so getan hat, als ob ihm seine Familie etwas bedeutete. Also zum Beispiel
ich und unsere seltenen Verabredungen. Als er mich am Karnevalsdonnerstag nicht
wie vereinbart im Büro abholt, ist mir das auch recht. Ich gehe in den
nahe gelegenen Biosupermarkt, wo mich an der Gemüsetheke der Anruf eines
Mitarbeiters erreicht: Mein Vater sei da.
Mist. Wir waren nicht im Büro, sondern direkt im Café Wahlen
verabredet gewesen. Er hatte auf mich gewartet und sich dann in mein Büro
aufgemacht. Klaglos begrüßt er mich und kündigt seinen Rentnerbeutel
schwenkend an, er habe mir etwas mitgebracht. Wahrscheinlich die Apotheken Umschau, denke ich. Mein Vater schenkt mir seit jeher nichts. Nicht
einmal zum Geburtstag. Dann bahnen wir uns durch Horden angetrunkener Verkleideter
den Weg ins Café Wahlen.
Meine Wahl war auf dieses Café gefallen, weil Interieur und
Speisen seit den Sechzigerjahren unverändert geblieben sind. Samtene Polsterstühle
vor Butzenscheiben und auf der Karte stehen Königinnenpastete mit Ragout fin.
In solchen Cafés habe ich mir, 15-jährig, das erste Geld verdient. Mit
Spitzenschürze und schwarzem Rock, das breite schwarze Portemonnaie randvoll
mit Wechselgeld. Solche Cafés gibt es aber in Köln schon lange nicht mehr. Nur noch
das Café Wahlen. Mit Speisen, die mein Vater allesamt gern mag. Vor gar nicht
so langer Zeit war ich mit ihm beim Italiener.
Keine gute Idee. Er war noch nie
bei einem Italiener gewesen. Italiener, hatte ich gedacht, seien neutral, die
gab es immer schon, von wegen Fünzigerjahre, Rita Pavone und so. 2 kleine
Italiener, das war ja von Conny Froboess, einer Deutschen. Aber mein Vater
mochte hier gar nichts. Was er denn überhaupt möge, fragte ich. “Gutbürgerliches”,
sagte er.
Also Café Wahlen. Dass hier auch viele Schwule verkehren, stört ihn nicht. Mein Vater hat nichts gegen Schwule. Er hat auch nichts gegen
Schwarze oder Türken. Auch nichts gegen Russen. Trotz der russischen Kriegsgefangenschaft.
Und nichts mehr gegen Katholiken. Dieser Abneigung wegen wurde ich seinerzeit
evangelisch getauft, aber das ist nun auch schon lange her.
Auf den Marmortischen des Café Wahlen liegen Luftschlangen,
die Kellnerin trägt eine bunt gemusterte Krawatte. Falls mein Vater enttäuscht
über ihr Alter ist – sie mag etwa 60 sein –, so lässt er sich das nicht anmerken
und lobt ihre, nun ja, Verkleidung. Überhaupt macht er, was er immer schon
gemacht hat, wenn er einer Frau begegnet: Er flirtet. Die blondierte Kellnerin
reagiert, wie ich seit jeher Frauen auf meinen Vater habe reagieren sehen: leicht
verlegen und leicht erfreut. Beim Flirten ist er so schmerzfrei wie wahllos.
Allein die Wirkung zählt, ob sie eintritt oder nicht. Eigentlich ist das ja gar
kein Flirten. Eher das Bestreben herauszufinden, was geht.
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