Die Wirtschaftswissenschaftlerin Victoria Bateman protestiert gegen den Brexit – mit bekannten Argumenten, aber nackt. Was ändert das?
Victoria Bateman zieht sich aus, um gegen den Brexit zu demonstrieren. Bateman ist Wirtschaftswissenschaftlerin am Gonville and Caius College der Universität in Cambridge. Nach dem Brexit-Referendum ging sie nackt in Meetings, im Januar hielt sie einen ganzen Vortrag nackt. Dass sie deswegen als Idiotin und Exhibitionistin bezeichnet wird, nimmt sie in Kauf.
ZEIT Campus ONLINE: Als was würden Sie sich bezeichnen: Wirtschaftswissenschaftlerin, Aktivistin, Künstlerin?
Victoria Bateman: Alles. Ich glaube, die Vorstellung, dass wir als Wissenschaftler nur Wissenschaftler sind, ist falsch. Wir müssen Annahmen herausfordern und Grenzen überschreiten. Wir dürfen nicht in unserem Elfenbeinturm bleiben. Wir sollten keine Angst davor haben, in politische und soziale Diskussionen involviert zu werden. Wenn ich mal auf dem Sterbebett liegen werde, möchte ich nicht auf eine Welt schauen müssen, die den Bach runtergeht und mir dann sagen müssen: Hätte ich mal mehr gemacht.
ZEIT Campus ONLINE: Und was machen Sie dagegen?
Bateman: Ich protestiere. Nach dem Brexit-Referendum wollte ich den Leuten zeigen, wofür sie gestimmt hatten. Ich wollte das auf eine klare Botschaft runterbrechen. “Brexit leaves Britain naked”, der Austritt aus der EU wird Großbritannien nackt zurücklassen. Denn einfache Botschaften, wie der Slogan der Brexit-Befürworter, “Take back control”, hatten einen großen Einfluss. Als Wissenschaftlerin habe ich Tausende von Wörtern dazu geschrieben, warum der Brexit schlecht für die Wirtschaft und für die Wissenschaft ist. Ich habe Bücher über den Markt und Handel in Europa verfasst. Aber meine Botschaft auf einen Satz zu verdichten und ihn mir auf den nackten Körper zu schreiben, hat eine größere Wirkung.
ZEIT Campus ONLINE: Ist das nicht deprimierend?
Bateman: Es nimmt den Schriften ja nicht ihre Wichtigkeit, es ergänzt sie. Ich glaube, visuelle Botschaften sind ziemlich mächtig. Ein einzelnes Bild kann so viel mitteilen. Meinen nackten Protest verstehe ich als Kunstperformance, und Kunst kann über das geschriebene Wort hinausgehen. Kunst kann Menschen auf einer menschlichen und emotionalen Ebene erreichen. Das schaffen wissenschaftliche Texte nicht. Wenn ich mit meinem Körper protestiere, komme ich mit den Menschen in einen viel stärkeren Austausch.
ZEIT Campus ONLINE: Wie begann Ihr Protest gegen den Brexit?
Bateman: Ein paar Tage nach dem Referendum traf ich zum ersten Mal auf meine Kolleginnen und Kollegen am Institut. Ich wusste, ich würde den ganzen Tag in Meetings mit ihnen sein. Ich hatte Angst, dass wir einfach unsere Agenda, die eine Woche vorher gemacht wurde, durchziehen würden. Dabei war klar: Der Brexit wird unser ganzes Leben verändern. Ich wollte, dass wir uns damit auseinandersetzten. Also habe ich beschlossen, zu protestieren.
ZEIT Campus ONLINE: Sie kamen nackt zum Meeting.
Bateman: Genau. Ich hatte zuvor schon aus feministischen Gründen nackt protestiert. Der weibliche Körper wird als Objekt männlicher Begierde gesehen. Ich wollte ihn nutzen, um den Blick auf eine politische Botschaft zu lenken. Deshalb habe ich schon vor dem Brexit nackt demonstriert und mich mit dieser Form des Protests intensiv auseinandergesetzt. Am 29. Juni habe ich mich spontan dazu entschieden, nackt zu protestieren. Niemand wusste Bescheid. Ich habe mich im Bad des Instituts ausgezogen, bin durch das Gebäude gelaufen und nackt in die Meetings gegangen.
ZEIT Campus ONLINE: Warum?
Bateman: Ich wollte ein klares, sichtbares Statement gegen den Brexit abgeben. Ich wollte Solidarität gegenüber meinen EU-Kolleginnen und -Kollegen zeigen. In den Meetings habe ich mich ganz normal verhalten, habe mich gemeldet und diskutiert und bin einmal auch an die Tafel gegangen, um etwas zu erklären.
ZEIT Campus ONLINE: Wie haben Ihre Kolleginnen und Kollegen auf Sie reagiert?
Bateman: Auf jeden Fall hat es bei ihnen etwas ausgelöst. Am Ende der Meetings wollten viele mit mir auf einer sehr persönlichen Ebene über ihre Sorgen nach dem Referendum sprechen. Ich hatte Kollegen, die mir von ihrem Umzug aus einem EU-Staat nach Cambridge erzählt haben, davon, wie die Kinder Englisch lernen mussten und die Familie hier neue Freunde gefunden hat. Manche Kolleginnen und Kollegen haben sich mir richtig geöffnet, auf eine Art, wie sie das vorher nie getan hatten. Ich glaube, der nackte Körper schafft es, menschliche Argumente in die Debatte zu bringen. Wenn wir über den Brexit sprechen, reden wir oft über Zahlen oder das Bruttoinlandsprodukt. Dabei betrifft der Brexit unser Leben auf den allerpersönlichsten Ebenen.
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