/Vererbung: Eltern haften an ihren Kindern

Vererbung: Eltern haften an ihren Kindern

Es gibt ein Erbe jenseits biologischer Genetik, das sich
über Generationen hinweg durch Familien zieht. Es ist nur teilweise
wissenschaftlich erforscht und verfolgt uns trotzdem ein Leben lang. 

Meinen Geschwistern und mir wurde zum Beispiel eine merkwürdige
Mischung mit auf den Weg gegeben. Eine gewisse Weltfremdheit mit Tendenz zur
Ignoranz von mütterlicher Seite mischt sich mit dem väterlichen Hang zur
Unordnung und Unkonventionalität. Für uns war es ein bisschen wie ein Leben in
einer Schneekugel. Innen drin herrschte ständig Gestöber, nach außen hin waren
wir abgeschottet von  der echten
Welt.  Wenn das Chaos meines Vaters
unsere beschützenden Glaswände einzureißen drohte, hielt meine Mutter sie
ängstlich aufrecht.

Im Teeniealter verkündete ich erstmals, dass ich möglichst
bald unsere Schneekugel verlassen würde. Und wie bescheuert ich meine Eltern
fand
.

Daran musste ich denken, als mein 14-jähriger Sohn neulich
gegen den Holzrahmen unserer Wohnungstür trat, bis ein Stück davon abbröckelte,
sie von außen zuschlug und mit riesigen Jungsschritten, immer drei Stufen auf
einmal, die Treppen herunter rannte.

Ich hatte ziemlich mit ihm geschimpft. Über seine Ignoranz,
sein faules Dasein, jenseits der Realität. Denn er hatte mit den Worten: “Davon
geht die Welt nicht unter” seine Mathenachhilfe versetzt, aus Versehen,
versteht sich.

Ein Bienenvolk, das um ihn herumschwirrt wie um seine Königin

Damit hat er zum Ausdruck gebracht, dass er all das ziemlich
unwichtig findet, auch seinen Einzelunterricht bei einer Oberstufenschülerin,
die ihm unentgeltlich hilft – so wie wir
alle. Wir sind das Bienenvolk, das ständig um ihn herumschwirrt wie um seine
Königin. Was er absolut nicht zu bemerken scheint. 

“Deine Erziehung!”, sagt sein Vater, mein Ex-Mann, am
Telefon. Bei mir kämen die Kinder mit jedweder Verfehlung durch. Weil sich bei
mir “alles immer irgendwie von selbst erledigt”. Bei mir, in meiner
Schneekugel.

Dabei ist es so, dass mich mein Sohn an die Aussetzer meiner
Adoleszenz erinnert. Und deren Folgen würde ich ihm gern ersparen.

Es gab Zeiten, da war mein Auto jeden Morgen abgeschleppt,
weil ich überzeugt war, dass dort, wo ich abends parkte, kein Halteverbot war.
Das kam immer, wie von Geisterhand, über Nacht. Auch das Gebrüll meines Vaters,
der Stapel Strafzettel und gut gemeinte Worte meiner Freunde änderten nichts
daran. “Du gehst ja in der Galaxis spazieren” sagte einer. Manche fanden das
witzig. Andere nicht.

Noch Jahre später nehme ich Dinge manchmal ein bisschen
anders wahr als andere Leute. Ich verpasse Flieger, springe ich in letzter
Sekunde auf abfahrende Züge, prokrastiniere, wo es möglich ist. Ich streite mit
Telefon- und Stromanbietern, bis gelbe Briefe kommen. Es kostet oft Geld und
Nerven, so zu sein, wie ich bin – so wie mein Vater.

“Jetzt verabschieden Sie sich langsam mal von den
Verhaltensmustern Ihres Vaters und bringen Ordnung in ihr Leben”, sagte meine
Therapeutin vor kurzem.

Da war mein Vater bereits 25 Jahre tot, wir hatten nur am
Rande über ihn gesprochen. Doch sie brachte mich zu der Erkenntnis, dass ich
ihn unbewusst  imitierte, um ihn
“unsterblich” zu machen. Seitdem versuche ich, damit aufzuhören.

Bereits Säuglinge imitieren Gesten

Inwieweit wir Verhaltensweisen unserer Eltern übernehmen und
weiterleben, sei ab einem gewissen Alter eine bewusste Entscheidung, sagt die
Professorin der Psychologie Gisa Aschersleben von der Universität Saarland.
Studien bestätigen: Wir alle beziehen uns auf fatale Weise auf unsere Eltern.
Ahmen sie nach oder machen das Gegenteil von ihnen. Bereits Säuglinge imitieren
Gesten (Meltzoff & Moore: 1977).
Mit sechs Monaten ahmen Babys einfache Handlungen nach, etwa einen Handschuh
über die Hand stülpen (Barr,
Dowden&Hayne, 1996
).  Die
Verhaltensweisen von Eltern sind tief verwurzelt.

Frühkindliche Informationen bahnen sich dauerhaft ihren Weg,
wie Wasser in feuchtem Beton. Aber auch später noch suchen wir uns Vorbilder,
die wir nachahmen, die unseren Charakter formen, sagt Gisa Aschersleben:
“Unsere Verhaltensweisen sind dabei auch immer Interaktion, ein Zusammenspiel.
Auch Kinder prägen umgekehrt ihre Eltern. Als Mutter gehen Sie ja auch mit
jedem Kind anders um.”

Wer erzieht also wen, frage ich mich, wenn meine Kinder
sagen: “Mama, deine Schuhe stehen aber auch im Flur!”. Ich sage dann: “Na und,
dann mach es besser als ich und räume deine in den Garderobenraum!”

Während mein Vater auch wegen seines frühen Todes bei uns
Töchtern Kultstatus
erreichte, behielt meine Mutter ihre undankbare Opferrolle.
Sie war kein gewähltes Vorbild, nur Grund genug, alles genau umgekehrt zu
machen. Früher war sie Follower meines Vaters, sagte immer “Ja” und lebte uns
vor, wie eine ordentliche Hausfrau frische Schnittblumen auf dem Tisch stellt,
einmal die Woche zum Friseur geht und nach außen hin alles glänzen lässt. Bis
heute kommentiert sie unbequeme Fragen, warum sie sich nie gegen irgendwas
gewehrt hat, mit Antworten wie: “Das war halt damals die Zeit.”

Aber kämpften damals nicht andere Frauen für
Gleichberechtigung, Feminismus und Freiheit? Wieso lebte sie in den Siebziger
immer noch so, als hätte sie keine Wahl gehabt? Wie kommt es, dass sie außer
Schlaghosen und Mittelscheitel nichts mitbekommen hat von ihrer Zeit?

So agierten meine beiden Eltern zwar in einer Schneekugel,
aber in zwei Paralleluniversen. Er legte im Büro die Füße auf den Schreibtisch
und eckte überall an. Meine Mutter buk Käsekuchen und behauptet bis heute,
Hippies habe es höchstens in Amerika gegeben.

Die weibliche Hauptrolle der Mutter imitiert

Sicher, ich kenne den verächtlichen Blick unserer Generation
auf unsere Mütter
. Umso merkwürdiger finde ich es, dass sich das Muster des
hoffnungslos anachronistischen Familienmodells meiner Eltern ausgerechnet in
meiner eigenen Ehe wiederholte. Warum habe ich zumindest teilweise die
weibliche Hauptrolle meiner Mutter imitiert – bis es vorbei war?

Meine Therapeutin sagt: Ähnlichkeiten und übernommene Werte
von Eltern
gibt es, so lange wir sie suchen. Vor allem solche, die uns lähmen,
in denen wir gefangen zu sein scheinen. Die Antwort ist dann immer gleich: Wir
müssen Verhaltensmuster erkennen und analysieren, um sie aufzubrechen und
endgültig loszuwerden
.

Manchmal bin auch ich immer noch in der Schneekugel. Ich
weiß zum Beispiel immer noch nicht, wie ich meinem adoleszenten Sohn beibringen
soll, Arbeitsblätter ordentlich abzuheften. Meine früher, voller Kaffeeflecken
und Schulbrotschimmel, lagen zur Ziehharmonika zusammengedrückt im Ranzen,
unterhalb der Bücher. Trotzdem hatte ich immer jemanden, der sich meiner
erbarmte, der mit mir Mathe paukte oder mich Hausaufgaben abschreiben ließ.
Alle anderen wären zitternd um mich herumgeschwirrt, inclusive ihr, sagt meine
Mutter, damit ich auch ja das Klassenziel erreichte.

Natürlich war ich mir nie einer prekären Lage bewusst. Oder
war sie am Ende gar nicht so prekär?  Ich
weiß nur: Dinge in Familien wiederholen sich.

Und vielleicht ist das ja auch alles nicht so schlimm.

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