Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heiße und ein tiefbegabtes Kind
bin. Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als
bei anderen Leuten. An meinem Gehirn liegt es nicht, das ist ganz normal groß. Aber manchmal
fallen ein paar Sachen raus, und leider weiß ich vorher nie, an welcher Stelle.
(Aus: “Rico, Oskar und die Tieferschatten“, Kinderbuch von Andreas Steinhöfel)
Dass tief drinnen in Emmas* Kopf etwas anders sein muss als bei anderen
Kindern, fiel den Lehrern gleich nach der Einschulung auf. Sie hatte Schwierigkeiten, den
Stift richtig zu halten. Den Lernstoff der ersten Klasse konnte sie sich auch im zweiten
Anlauf kaum erschließen. Emma, jetzt in der Dritten, liest nur mit Mühe, Buchstabe für
Buchstabe. In Mathe hängt sie bei den Plus- und Minusaufgaben fest, während die anderen schon
lange malrechnen.
Emma ist ein hübsches Mädchen, die langen braunen Haare trägt sie als Zopf. Emma ist auch
beliebt. Ihr freundliches Lächeln gefällt so sehr, dass sie für Fotoshootings gebucht wird.
Emma würde gern auch mit Leistungen gefallen. Sie macht mit, sie strengt sich an, aber es
klappt einfach nicht. Ihre Lehrer sind in Sorge, und die Eltern erst recht.
Was ist los mit Emmas Kopf?
Heute ist eine Sonderpädagogin in die Schule gekommen, irgendwo in Hamburg, kein besonders
gutes, kein besonders schlechtes Viertel. Auf dem Tisch hat die Frau ein großes Blatt
ausgebreitet, auf dem reihenweise gezeichnete Enten zu sehen sind. Die Enten unterscheiden
sich in Details: Manche gucken nach links, andere nach rechts. Gelbe Schnäbel, rote Schnäbel.
Schwarze Watschelfüße, gelbe Watschelfüße. Emma soll sich drei Enten einprägen und dann in den
langen Reihen genau solche Enten heraussuchen. Neun Reihen von Enten, in jeder Reihe darf Emma
15 Sekunden suchen.
Los geht’s, Emma!
Emma malt mit dem Kuli Kreise um Enten, kaut auf dem Finger.
Stopp! Nächste Reihe!
Emma kreist Enten ein, richtige, falsche.
Stopp! Nächste Reihe!
Emma zwirbelt an der Unterlippe.
Stopp, weiter! Gleich hast du’s geschafft!
Am Ende hat Emma eine Menge Enten übersehen und eine Menge falsche eingekreist. Als sie
Zahlen- und Buchstabenreihen nachsprechen soll, kommt sie durcheinander. Formen mit
Bauklötzchen nachbauen – schwierig.
Wie schlau ist Emma? Welches Leben, welche Möglichkeiten liegen vor ihr? Wird sie einen
Schulabschluss schaffen? Wird ihr Potenzial als Fundament ausreichen, um eine Existenz darauf
zu bauen?
Emma ist nicht krank, nur kommt sie über ein bestimmtes Level nicht hinaus. Kinder wie sie
gibt es nicht sehr viele, aber es werden mehr, nicht nur in Deutschland, sondern fast überall
in der westlichen Welt. Das jedenfalls legen wissenschaftliche Untersuchungen nahe. Denn wir
Menschen, die wir uns über Jahrhunderte immer weiter perfektioniert haben, die wir in den
letzten Jahrzehnten schlauer und schlauer wurden, wie die meisten Intelligenzforscher sagen,
wir sind offenbar dabei, Stück für Stück, IQ-Punkt für IQ-Punkt etwas von unserem Verstand
einzubüßen.
Kann das wirklich sein?
Die neuseeländische Region Otago ist eine Halbinsel. Wildes Wasser, Felsenklippen,
Albatrosse. Hier wohnt – und arbeitet trotz seiner 85 Jahre noch immer – James Flynn,
emeritierter Professor für Philosophie an der Universität von Dunedin, einer viktorianisch
geschmückten 130.000-Einwohner-Stadt. Flynn ist ein berühmter Mann. Der Grund für seinen Ruhm:
ein Aufsatz, den er 1987 im
Psychological Bulletin
veröffentlichte, nach einer
30-jährigen akademischen Laufbahn, die er von einer größeren Öffentlichkeit unbeachtet
absolviert hatte. Eines Tages im Jahr 1980 hatte er in einem Handbuch für einen
Intelligenztest geblättert. Der Test und das Handbuch waren von 1972, und auf den ersten
Seiten wurde erläutert, dass eine Gruppe von Kindern nicht nur diesen Test absolviert hatte,
sondern zum Vergleich auch die Vorgängervariante von 1947. Und noch etwas stand da: Die Kinder
hatten bei dem alten Test von 1947 einen Durchschnittswert von 108 erreicht – das waren acht
Punkte mehr, als die Kinder im Jahr 1947 geschafft hatten. Was war da los?, fragte sich Flynn.
Konnte es sein, dass die Kinder des Jahres 1972 schlauer waren als Gleichaltrige zweieinhalb
Jahrzehnte zuvor?
Flynn setzte sich an seine Schreibmaschine und schrieb an 165 Forscher in aller Welt: Er
sammle die Ergebnisse von Studien, bei denen mehrere Generationen von Einwohnern
vergleichbaren Alters immer dieselben Intelligenztests absolviert haben. Nach und nach kamen
Briefe und Daten zurück, aus 35 Ländern. Flynn sichtete, rechnete und konnte es kaum glauben:
Ob in Japan oder Kanada, in den USA, in Großbritannien oder Frankreich, in Westdeutschland
oder in der DDR – überall in den untersuchten Industrienationen hatten die Menschen von
Generation zu Generation einen immer höheren IQ-Wert erreicht, 5 bis 25 Punkte lagen zwischen
einer Generation und der nächsten. Die anderen Forscher waren ebenso begeistert. Sie nannten
die wundersame Intelligenzsteigerung den “Flynn-Effekt”.
Die Entdeckung des Flynn-Effekts versetzte die westliche Welt in eine regelrechte
IQ-Euphorie. Immer mehr Kinder durchliefen IQ-Tests, denn vor allem die Hochbegabten wollte
man nun auf gar keinen Fall übersehen. Bücher über Hochbegabte wurden Bestseller, besonders
Schlaue, IQ 130 plus, wurden Mitglied im Verein Mensa, wo sie anfingen, sich zu
Schachturnieren und Debattierrunden zu treffen. Bald wusste man: Die Schauspielerin Jodie Foster hat einen IQ von 132. Madonna, die Musikerin, hat 140, Garri Kasparow, der
Schachspieler, 190. Die internationalen IQ-Vergleiche wurden immer ausgefeilter.
Die Anbieter der IQ-Tests begannen, ihre Tests regelmäßig zu normieren. Der Durchschnitts-IQ
sollte ja weiterhin bei 100 liegen – so ist es immer bei IQ-Tests: Hundert ist der Standard,
die nicht so Schlauen haben weniger, die besonders Schlauen mehr. Unter 85 gilt man als
unterdurchschnittlich, über 115 als überdurchschnittlich intelligent. In Deutschland wurde
empfohlen, die Tests spätestens alle acht Jahre zu erneuern. Mit jeder Normierung wurden die
IQ-Tests ein wenig schwieriger.
Der Westen sonnte sich in der Vorstellung, immer neue geistige Höhen zu erklimmen und so die
Welt mit immer scharfsinnigeren Ideen zu beglücken. Man lebte in der Gewissheit, dass die
Schulen immer besser wurden und das Leben der Menschen immer sorgloser. Die gute Ernährung,
die zusätzliche Zeit, die Eltern dank der regulierten Arbeitszeiten für ihre Kinder hatten,
die anspruchsvolleren und geistig anregenderen Jobs, all das wurde als Erklärung für den
Flynn-Effekt ins Feld geführt.
Bis 2004. In diesem Jahr riss die IQ-Euphorie plötzlich ab. Die erste schlechte Nachricht kam
aus Norwegen. Psychologen der Universität Oslo und der norwegischen Streitkräfte hatten Daten
miteinander verglichen, die zwischen 1954 und 2002 bei der Musterung von jungen Männern
erhoben worden waren – und den Forschern war ein Knick in der IQ-Kurve aufgefallen. Zwischen
1970 und 1993 hatte sich die Zunahme des IQ verlangsamt. Von 1994 an fielen die Scores.
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