Das britische Unterhaus stimmt über Alternativen zu dem Vertrag ab, den die Regierungschefin mit der EU ausgehandelt hat. Um welche Vorschläge geht es?
© Paul Ellis/AFP/Getty Images
Das britische Parlament will an diesem Mittwoch über Alternativen zum Brexit-Deal
von Premierministerin Theresa May debattieren. Das Ziel: Eine Ersatzlösung für Mays
Austrittsabkommen suchen, das sie bereits zwei Mal abgelehnt haben. Geplant
sind so genannte indicative votes – richtungsweisende Abstimmungen, mit denen
ausgelotet werden soll, für welche Alternative es eine Mehrheit gibt. Wir erklären, was in den kommenden Tagen in London passieren wird.
Inwiefern hat das Parlament die Kontrolle übernommen?
Normalerweise bestimmt in Großbritannien die Regierung die Tagesordnung im Parlament. Sie legt fest, wann über welche Punkte abgestimmt wird. Die Abgeordneten sind straffer Parteidisziplin unterworfen. Sie haben daher kaum die Möglichkeit, in die Politik der Regierung einzugreifen und sie zu korrigieren.
Am vergangenen Montag allerdings haben die Abgeordneten einen verfassungsmäßigen Coup organisiert. Sie stimmten mehrheitlich für einen Antrag, der dem Parlament das Recht einräumt, über Alternativen zur Brexit-Politik von Regierungschefin Theresa May abzustimmen. Wenn sich das Parlament am heutigen Mittwoch einigt, könnte es in weiteren Sitzungstagen rechtliche Maßnahmen ergreifen, die May zum Handeln zwingen würden. Die Abgeordneten müssen jedoch vor dem 12. April einen Konsens finden – sonst droht der harte Brexit.
Welche Alternativen stehen zur Wahl?
Insgesamt gibt es 16 Vorschläge. Die wichtigsten sind folgende:
Widerruf des Brexits: Diesen Antrag gibt es in zwei Varianten: Die Regierung könnte sofort und ohne weitere Bedingungen den Brexit nach Artikel 50 des EU-Vertrags widerrufen. In einer zweiten Fassung wird dieser Widerruf davon abhängig gemacht, dass Mays Brexit-Deal ein drittes Mal im Parlament durchfällt und das Parlament sich auch nicht auf etwas anderes einigt. In beiden Fällen bliebe Großbritannien zu den jetzigen Bedingungen Mitglied der EU.
Zweites Referendum: Ein Antrag, der jetzt schon die größte Unterstützung der Abgeordneten hat, sieht vor, dass jeglicher Deal in einer Volksabstimmung abgesegnet werden muss, bevor er ratifiziert werden darf. Einige Anträge fechten die Rechtmäßigkeit der Fristverlängerung an oder bestehen darauf, dass es auf jeden Fall einen Brexit geben muss. Andere fordern, dass es keinen Brexit ohne eine zusätzliche Zustimmung von Schottland und Wales geben darf. Einige Anträge bitten um Notmaßnahmen, die mit der EU ausgehandelt werden sollen – wie ein standstill agreement, um die Konsequenzen eines No Deal abzufedern.
Gestaltung der Handelsbeziehungen: In vielen Anträgen geht es um die künftige Handelsbeziehung Großbritanniens mit der EU. Da tobt der Machtkampf im Parlament. Die Hardliner wollen eine eigene Freihandelspolitik, also keine Zollunion und keinen Binnenmarkt. Die EU-Anhänger sind anderer Meinung. Diese Zukunftsfrage wird nicht in dem bereits fertigen Austrittsvertrag geregelt, sondern in der politischen Erklärung. Hier eine Auswahl der Alternativen
– Deal von Theresa May mit Ersatz von Backstop durch “Alternative” (Vorschlag einiger Hardliner)
– geänderter Deal von Theresa May plus EU-Zollunion
– geänderter Deal von Theresa May plus Binnenmarkt/Europäischer Wirtschaftsraum EFTA
– Common-Market 2.0 , also Mitgliedschaft in der EFTA und gemeinsames Zollgebiet mit der EU, gemeinsame Außenzölle mit der EU, kein Backstop notwendig, Arbeitnehmer-Freizügigkeit weitgehend akzeptiert
– geänderter Deal von Theresa May plus Zollunion und enge Anlehnung an Binnenmarkt von Labour
Nach welchen Verfahren wird abgestimmt?
Am Mittwochabend soll zunächst eine grobe Vorauswahl stattfinden. Dabei können die Abgeordneten auf einer Liste hinter jeder Alternative Ja oder Nein ankreuzen, also auch Ja bei mehreren Lösungsansätzen. Das Verfahren hat den Vorteil, dass taktisches Wählen sinnlos ist. Allerdings kommt am Ende aber auch nicht die eine Lösung dabei heraus – das ist aber auch nicht angestrebt. Es geht um eine Vorauswahl. Am Montag soll eine Feinabstimmung erfolgen. Welches Abstimmungsverfahren dann angewandt wird, ist noch nicht klar. In jedem Fall sollte es verhindern, dass taktisches Wählen weitere Wahlgänge und damit das Endergebnis verfälscht.
Sind die Abstimmungen bindend für die Regierung?
Ja. Das hat Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox am Dienstag in der Kabinettssitzung deutlich gemacht. May darf eine Anweisung des Parlaments, ihre Politik zu ändern, nicht ignorieren. Sollten es die Abgeordneten in den nächsten Tagen schaffen, eine Mehrheit für eine Alternative zu finden, muss sich May danach richten. Selbst wenn das Parlament verlangt, dass May eine umfangreiche Verlängerung bei der EU beantragen soll, um zum Beispiel eine Zollunion oder eine EFTA-Mitgliedschaft auszuhandeln, muss sie dem Folge leisten. Selbst dann, wenn Großbritannien deswegen an den EU-Parlamentswahlen teilnehmen müsste. So sei die britische Rechtslage. May hatte zuvor behauptet, sie müsse sich nicht nach dem Parlament richten – im Gegenteil: Die britische Regierung kritisierte, dass das vom Abgeordneten Oliver Letwin angestoßene Verfahren ein “gefährlicher Präzedenzfall mit unabsehbaren Folgen für die Zukunft” darstelle.
Welche Strategie verfolgt Theresa May?
May verfolgt ausschließlich Brexit-Lösungen, die den Wünschen ihrer konservativen Parteibasis entsprechen. Bei dieser will eine große Mehrheit den Brexit, im Zweifel sogar einen ohne Deal. Da ihr vom Generalstaatsanwalt am Dienstag gesagt wurde, dass sie den Auftrag des Parlaments, eine neue Brexit-Strategie zu verfolgen, umsetzen müsse, nutzt sie dies nun für ihre Strategie. Offenbar plant sie eine dritte Abstimmung über ihren Deal für Freitag. May kann dann allen Brexit-Anhängern und den nordirischen Abgeordneten drohen, dass ihr Vertrag die härteste Brexit-Version im Angebot sei. Denn als Alternative zeichnet sich nur ein weicherer Brexit oder sogar gar kein Brexit ab. Das erklärt, warum die ersten Hardliner wie Jacob Rees-Mogg bereits umgefallen sind und nun Mays Deal unterstützen. Selbst Boris Johnson reagiert plötzlich. Ob dies reicht, ist allerdings fraglich.
Welche Alternativen sind mit der EU umsetzbar?
Für die EU ist der Verhandlungspartner formal nach wie vor die britische Regierung als Exekutive und nicht das Parlament. Zwar hat die EU Gespräche mit Oppositionsführer Jeremy Corbyn und anderen Parteien geführt. Aber verhandelt wird mit der Regierung. Zudem hat die EU nun mehrmals betont, dass der mit Großbritannien ausgehandelte Austrittsvertrag nicht neu verhandelt werde. Dennoch: Die EU hat immer gesagt, dass der Austrittsvertrag das Ergebnis der sogenannten roten Linien der britischen Regierung gewesen sei. Sie hat darauf hingewiesen, dass auch andere Modelle verhandelt werden könnten. Großbritannien könnte – wie Norwegen – der EFTA, dem Europäischen Wirtschaftsraum, beitreten und/oder mit der EU eine Zollunion bilden. Die EU könnte mit Großbritannien auch ein Freihandelsabkommen nach dem kanadischen Modell vereinbaren – dann aber müsste die Frage der irischen Grenze geklärt werden.
Ist ein No Deal damit wirklich ausgeschlossen?
Nein. Derzeit gilt nach internationalem Recht, dass Großbritannien am 12. April mit einem No Deal aus der EU tritt. Soll dies nicht geschehen, muss vorher eine Lösung gefunden werden. Entweder der Deal von May wird – zum Beispiel – am Freitag vom Parlament akzeptiert. Dann könnte die Regierung eine Fristverlängerung bis 22. April vereinbaren. Oder das Parlament einigt sich auf eine andere Politik und zwingt May zum Handeln.
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