Gisela Stuart war 20 Jahre lang Abgeordnete des britischen Unterhauses. 2016 setzte sich das Labour-Mitglied als Co-Vorsitzende der Vote-Leave-Kampagne für den Austritt Großbritanniens aus der EU ein. Stuart wurde in Bayern geboren, seit 1974 lebt sie in Großbritannien. Im Interview spricht sie über Fehler der konservativen Premierministerin, räumt aber auch eigene Versäumnisse ein.
ZEIT ONLINE: Frau Stuart, das Durcheinander in London wird immer größer. Nun haben die Abgeordneten die Initiative an sich gerissen. Ist das ein Putsch des Parlaments?
Gisela Stuart: Die Regierung hat die Kontrolle verloren. Aber ich bin noch nicht davon überzeugt, dass das Parlament eine bessere Lösung finden wird.
ZEIT ONLINE:Wären Sie noch Abgeordnete, wofür würden Sie jetzt stimmen?
Stuart: Mit großem Zögern würde ich sagen: Das vorliegende Abkommen ist nicht der Deal, den ich mir vorgestellt habe. Es ist aber die einzige Lösung, mit der man die Entscheidung der Volksbefragung von 2016 umsetzen kann. Ich würde mir die Nase zuhalten und Theresa Mays Deal zustimmen.
ZEIT ONLINE: Die EU hat Großbritannien eine Frist gesetzt. Spätestens bis zum 12. April müssen Regierung und Unterhaus entscheiden, wie es weitergeht. Viele britische Konservative empfinden das als “nationale Demütigung”. Sie auch?
Trägt Theresa May denn allein die Schuld?
Stuart: Die aktuelle Situation ist peinlich! Besonders peinlich ist es, dass unser politisches System bislang keinen Weg gefunden hat, die internen Spaltungen im Land zu überwinden. Der Europäischen Union darf man deswegen keine Vorwürfe machen, sie hat sich sehr geschickt verhalten. Das Problem liegt bei unserer Regierung. Deshalb brauchen wir für alle weiteren Verhandlungen mit der EU ein neues Team.
ZEIT ONLINE: Sie meinen eine neue Premierministerin?
Stuart: Ich kann mir schwer vorstellen, wie man die Fehler, die gemacht worden sind, künftig vermeiden will, wenn Theresa May im Amt bleibt.
ZEIT ONLINE: Trägt May denn allein die Schuld für den Schlamassel?
Stuart: Nein, das ist ein bisschen wie in Agatha Christies Roman Mord im Orient-Express: Viele haben dazu beigetragen. Es fing damit an, dass der damalige konservative Premier David Cameron eine Volksabstimmung aus innerparteilichen Gründen ausrief, ohne irgendwelche Vorbereitungen für den Fall zu treffen, dass er diese Abstimmung verliert. Der nächste Fehler war sein Rücktritt. Vor dem Referendum hatte er versprochen, dass er jedes Ergebnis akzeptieren und umsetzen werde. Dann war er plötzlich weg. Theresa May hat die Vorgabe der EU akzeptiert, zunächst nur über den Austritt zu verhandeln und erst danach über die künftigen Handelsbeziehungen. Damit war die EU von Anfang an im Vorteil. Schließlich ist es auch eine Frage der Persönlichkeit. May vermag es nicht, Menschen mit gegenteiligen Meinungen zusammenzuführen. Der einstige Labour-Premier Tony Blair oder auch David Cameron hätten das ganz anders gemacht.
ZEIT ONLINE: Haben Sie selbst mit der Vote-Leave-Kampagne gar nichts falsch gemacht?
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