Steigt der Meeresspiegel weiter an wie bisher, wird Miami
spätestens im nächsten Jahrhundert untergehen. Das scheint ausgemachte Sache zu
sein. Der Großteil der Bevölkerung lebt in süßer Verleugnung, während gewiefte
Spekulanten den Superreichen mit schwimmenden Wohninseln, Villen auf Stelzen
und salzwasserresistentem Golfrasen winken.
In seinem fulminanten zweiten Roman Miami Punk greift Juan S. Guse das apokalyptische Szenario unserer Gegenwart auf und verkehrt es
zugleich ins Absurde: Entgegen jeder physikalischen Gesetzmäßigkeit hat sich
der Atlantik quasi über Nacht zurückgezogen und das Gebiet zwischen Florida und
den Bahamas in eine unwirtliche Wüstenlandschaft verwandelt. Ein schadenfroher
Wink an die paranoiden Prepper aus seinem Debüt Lärm und Wälder (2015)?
Letztlich trifft das Desaster zwar ein – nur ganz, ganz anders als gedacht.
Auf gut 630 Seiten breitet der 29-jährige Absolvent des
Literaturinstituts Hildesheim die Vision einer unwahrscheinlichen Katastrophe
aus, die weniger handlungsgetrieben nach vorne geht, als sich vielmehr – nach Art
komplexer Videospiele – ins schier Unendliche zu verzweigen. Immer wieder eröffnen
die ineinander verwobenen Erzählstränge geheime Gänge und Falltüren, Untiefen
und dunkle Unterströme, Glitches und surreale Verzerrungen inklusive.
Dabei bietet Miami Punk zunächst ein recht klassisches Cyberpunk-Szenario: Staatliche Zeppeline
kreisen über den ehemaligen Stränden und fahnden nach illegalen Pilgergruppen,
die sich auf der Suche nach einem besseren Leben in die Wüste hineinbewegen.
In den Außenbezirken versuchen Ringervereine – eine Art inoffizielle Bürgerwehr
– der Alligatorenplage Herr zu werden. Aufgrund der enormen Konkurrenz sitzen
die Wrestler allerdings meist nur in ihren Vereinsheimen herum, schlürfen proteinangereicherte
Smoothies und warten darauf, dass das Telefon klingelt. Im berüchtigten Rowdy-Yates-Komplex, einer heruntergekommenen “Stadt in der Stadt” im Norden Miamis, tagt
indes ein spiritualistischer Kongress, um den sich allerlei Mythen ranken.
Thomas Pynchon und George Saunders
Verschwörungstheorien machen die Runde; von verseuchtem
Grundwasser, Todesschwadronen und Triebtäterkolonien ist die Rede. Niemand
weiß, wie viel Wahrheit dahintersteckt, geschweige denn, wer sie in die Welt
setzt: Die Stadtverwaltung selbst? Der ominöse Life-Science-Konzern Nowak? Oder
etwa die militante Gruppierung “Miami Punk”, die sich im Kellergeschoss von
Rowdy Yates trifft? Verlassen kann man sich in diesem postapokalyptischem Chaos
eigentlich nur noch auf eins: Wenn man bei José Pepperoni eine Pizza bestellt,
kommt sie in 25 Minuten an. Dafür sorgen schon allein die gummibandartigen Vorrichtungen,
mit denen Pepperoni seine Lieferfahrzeuge auf die Straßen Miamis katapultiert.
Guse zeigt sich in seinem neuen Roman deutlich verspielter
als in seinem Debüt und strebt zugleich nach Höherem: Angereichert mit Science-Fiction-Elementen
und allerlei kuriosen Gadgets, entwirft er ein virtuos verschachteltes Gebilde
mit Bezügen zu Popkultur, Literaturwissenschaft, Theologie und Philosophie, das
an Thomas Pynchon oder George Saunders erinnert. Ein bloßer Setzkasten für
Gedankenexperimente ist Miami Punk jedoch beileibe nicht geworden. Guse hat ein Gespür für Timing und Figurenzeichnung. Anders als die etwas
schablonenhaften Paranoiker in Lärm und Wälder besitzen die liebevoll
ausgestalteten ProtagonistInnen in Miami Punk, so schräg sie auch sein mögen,
durchaus Identifikationspotenzial.
Da ist zum einen die Game-Entwicklerin Robin, die tags bei
Nowak arbeitet und abends an einem Computerpiel namens Das Elend der Welt
bastelt, das in etwa so ambitioniert (und düster-ironisch) daherkommt wie Guses
Roman. Zum anderen Robins 18-jähriger Cousin Lint, für den der Kongress eine
Art neues Zuhause wird. Auf der Suche nach Sinn verirrt sich der einsame Nerd
in die unteren Stockwerke des Gebäudes und gerät zunehmend in die Fänge der
titelgebenden Sekte Miami Punk.
Unterdessen erforscht Robins Freundin Daria im Auftrag der
mysteriösen Behörde 55 die ungeklärten Phänomene der Stadt. Eine mindestens
ebenso große Rolle spielt allerdings Darias Faible für Hawaii-Hemden mit abgründigen
Umweltkatastrophen-Drucken. Die giftigen Schaumberge auf dem Bellandur-See in
Bangalore zum Beispiel, die Robin mit einem lakonischen “Steht dir gut”
kommentiert. Auf beinahe jede Seite platziert Guse derlei gewitzte Mise en abymes,
die immer wieder kurze, schwindelerregende Blicke in mögliche Parallelwelten
gewähren.
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