Warum
Menschen dieses oder jenes Buch mit Begeisterung lesen, ist ein Geheimnis, an
dem sich Autoren, Verleger und Wissenschaftler bis heute die Zähne ausbeißen. Aus
welchen Gründen allerdings eine Lektüre den Freunden, Kunden oder Zuschauern enthusiastisch
empfohlen wird, lässt sich relativ gut beobachten. Hier zeichnet sich seit
geraumer Zeit ein bibliophober Trend ab.
Mit beunruhigender Regelmäßigkeit rufen Kritiker, Literaturveranstalter und -vermittler
das “Buch der Stunde” aus. Es sind Romane, die die Welt erklären, die den
Schlüssel liefern sollen zu unserer sogenannten hyperkomplexen Gegenwart. Wer etwa im vergangenen Jahr ratlos vor den antisemitischen Ausschreitungen in Chemnitz stand, begriff
dank Lukas Rietzschels Debüt Mit der Faust in die Welt schlagen über zwei
Brüder, die in der ostsächsischen Provinz aufwachsen, endlich die dortigen Wahlerfolge
der AfD. Wer in der ausufernden #MeToo-Debatte den Anschluss verloren hatte,
dem präsentierte Bettina Wilpert mit ihrem Buch Nichts, was uns passiert auf 168
Seiten ein zeitlich zumutbares Kondensat zum vertrackten Stand der Dinge. Und pünktlich
zum Abtritt des VW-Chefs Matthias Müller versorgte Alexander Schimmelbusch uns
mit Hochdeutschland, einem Abgesang auf den Spätkapitalismus aus der
Perspektive eines obszön reichen, doch unglücklichen Investmentbankers.
Die
aktualitätsorientierte Lesart vom “Buch der Stunde”, das den vermeintlichen Nerv der Zeit zu treffen vermag, illustriert einen Anspruch, der immer wieder
an Gegenwartsliteratur herangetragen wird. Literatur soll einen Zeitgeist
erfassen, das gesellschaftspolitische Geschehen kommentieren und alles in einer
möglichst sinnstiftenden Narration präsentieren. Hatte man vor wenigen Jahren
der jungen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur noch ihre kraftlos-saturierte
Haltung zur Welt vorgeworfen, sind sie nun endlich da: die
relevanten Romane. Autoren, Verlage, Veranstalter und sogar die von ewigen Untergangsfantasien
geplagte Literaturkritik profitieren davon. Bedeutungsschwere Rezensionen können
geschrieben werden, die einen Bogen spannen von einzelnen Romanszenen hin zu
den großen Fragen unserer Gegenwart. Veranstaltungen mit anwesendem Autor bekommen
endlich wieder gesellschaftspolitische Brisanz (und Berichterstattung). Und bei
so viel Welthaltigkeit und Relevanz ist der Verkaufserfolg beinahe schon
vorprogrammiert.
Ein “Psychogramm unserer Zeit”
Diverse Akteure profitieren also finanziell und aufmerksamkeitsökonomisch
von diesen utilitaristischen Formaten und Mechanismen. Nur die Literatur bleibt
auf der Strecke. Der einzelne Roman verkommt zum bloßen
Stichwortgeber. Er vermittelt eine präferierte Weltsicht, die man als Leser
ohnehin immer schon mal diskutiert oder bestätigt haben wollte. Das “Buch der
Stunde” liefert Anlass zur (Wiederaufnahme einer) Debatte, gegebenenfalls sogar
einen Beweis für die eigenen Thesen. So wurde Mit der Faust in die Welt
schlagen bei vielfacher Gelegenheit als Argument angeführt dafür, dass
Radikalisierung bei denjenigen wahrscheinlicher ist, die sich ohnehin abgehängt
fühlen. Und Nichts, was uns passiert musste als Mahnmal dafür herhalten, dass
in #MeToo-Diskussionen Täter- wie Opferperspektive berücksichtigt werden will.
Natürlich
entsteht kein Roman im luftleeren Raum. Er entwirft eine fiktive Welt, die zur
realen in einem komplexen und unlösbaren, aber keinem kongruenten Verhältnis
steht. Wer, zumal als professioneller Leser, einen Roman auf das “Buch der Stunde”
reduziert, verkennt seine Fiktionalität und limitiert damit jene Offenheit, die
der Gattung eigentlich konstitutiv ist. Ähnlich vereinfachend wie das “Buch der
Stunde” funktioniert die gerade gleichsam populäre autorzentriert-identitäre
Lesart. Befeuert durch eine Konjunktur von Romanen, die auf
autoethnografischen Schreibverfahren und authentischen Erfahrungen des Autors beruhen,
wird ein Buch als “Psychogramm unserer Zeit”, als “feministisches Manifest”
oder “Stimme seiner Generation” beworben und rezipiert. Indem der Autor zum
Stellvertreter einer Gruppe oder Bewegung erklärt wird, fungiert sein Roman als
aktualitäts- wie identitätsorientiertes Zeugnis derselben. Ein gutes Buch ist nach
diesem Denkmuster eines, das ungehörte Stimmen zu Wort kommen lässt, das eine
neue Perspektive aufzeigt und zum feuilletonistischen Diskurs ergänzt. Dadurch
entzieht sich der Roman einer kritischen Lesart per se. Denn wie sollte man
eine Erfahrung, eine Wahrnehmung beurteilen? Wie könnte man sich als Leser
anmaßen, darüber zu richten, was ein anderer durchlitt?
Eindimensional
autonomieästhetische Lesarten sind sicherlich aus guten Gründen aus der Mode
gekommen. Der Autor ist heute eben nicht mehr mausetot. In Wissenschaft
und Kritik erfahren schriftstellerische Inszenierungspraktiken seit einigen
Jahren verstärkte Aufmerksamkeit. Neue Methoden und Blickwinkel werden
erprobt, nicht zuletzt, weil Autoren in zahlreichen gefragten Formaten von
Lesungen über Werkstattgespräche bis hin zur Instagram-Story aus dem Wohnzimmer
live erlebbar werden. Außerdem stellen postkoloniale und feministische
Theorien, die zum festen Bestandteil geisteswissenschaftlicher Studiengänge
geworden sind, notwendige Ergänzungen zur analytischen Textlektüre dar. Wie
viel Aufmerksamkeit ein Buch bekommt und ob es kanonisiert wird, hängt eben
nicht nur von der literarischen Qualität, sondern auch von Machtstrukturen
innerhalb des Literaturbetriebs ab. Doch ist uns über diese differenzierten
Kontextbetrachtungen vielleicht das genaue Lesen abhandengekommen und das
Selbstbewusstsein, es im Zentrum einer jeden Buchdiskussion zu platzieren?
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