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Kinderbücher: Unendliche Geschichten

Anarchie fürs Leben

Kinderbücher


© Dominik Beckmann / Brauer Photos

Der Struwwelpeter ist für mich Rock ’n’ Roll, ein Anarcho-Junge. Und
Anarchie ist gut. Mein ganzes Leben ist Rock ’n’ Roll, ich habe mich wiedergefunden in den
Untaten vom Struwwelpeter, vom bösen Friederich oder vom Suppen-Kaspar.

Ich habe keine Dinge mehr aus meiner Kindheit, auch meine alte Ausgabe vom
Struwwelpeter
ist bei einem Umzug verloren gegangen. Aber vor drei Jahren habe ich ihn mir zurückgeholt. Da lag er plötzlich vor einem Berliner Buchladen im Ausverkauf, für fünf Euro. Ich habe die Buchhändlerin gefragt: “Läuft wohl nicht mehr so?” Sie sagte: Nein,
Der
Struwwelpeter
werde nicht mehr gekauft.

Viele sagen,
Der Struwwelpeter
sei politisch nicht mehr korrekt.
Die Geschichte von den schwarzen Buben
zum Beispiel – zu rassistisch. Andere sagen, er sei grausam, etwa wenn Paulinchen mit dem Feuer spielt und verbrennt. Ich verteidige das Buch gegen solche Vorwürfe, denn die Geschichten zeigen: Es gibt Regeln im Leben, an die muss man sich halten. Sonst erfährt man Schmerz oder fügt anderen Schmerz zu. Natürlich konnte ich als Kind nicht begreifen, was der Tod ist. Aber so habe ich gelernt, dass er dazugehört.

Es kommt aber darauf an: Wer vermittelt einem das Buch und wie? Wenn meine alleinerziehende Mutter arbeiten war, hat die Oma mir vorgelesen. Ich erinnere mich an Vertrautheit und unendliche Liebe in den Momenten auf ihrem Schoß. Ich finde es wichtig, dass Kinder Ängste genauso kennenlernen wie Wärme und Zuversicht. Man sollte sie nicht von Ängsten fernhalten und in einer Traumwelt belassen, die nicht existiert.

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Mein innerer Kompass


© Lorenz Fotodesign / Bundesverfassungsgericht

Ich konnte als Kind über
Das fliegende Klassenzimmer
von Erich Kästner eigentlich mit niemandem sprechen. Es hat mich so berührt, dass ich es für mich allein
haben und mit niemandem teilen wollte. Auch beim zehnten Mal Lesen habe ich am Ende ein paar
Tränen verdrückt. Ich wollte, dass die Welt genau so ist. Für mich war der Roman nicht nur
eine Geschichte, sondern ein moralischer Weltentwurf.

Ich mag die tiefe Menschlichkeit in
Das fliegende Klassenzimmer
und die leichte Gebrochenheit der Protagonisten: Sie sind klug und arm (Martin), schlicht und stark (Matthias) oder sensibel und furchtsam (Uli) – und finden trotzdem einen Platz im Leben. Für mich geht es in dem Buch um Freundschaft, Zivilcourage und Gerechtigkeit. Es sind große Themen, die in kleinen Momenten eingefangen werden, etwa wenn Martin doch nach Hause fahren kann und seinem Hauslehrer, der ihm das Reisegeld geschenkt hat, eine Weihnachtskarte schreibt.

Damals war mir das nicht so bewusst, aber heute würde ich sagen, das Buch hat mir einen inneren Kompass mitgegeben: Geh respektvoll mit deinen Mitmenschen um. Denk dran, dass sie alle eine eigene Geschichte haben. Setz dich für die Schwächeren ein, und glaub daran, dass das Gute die Oberhand behält. Es war für mich ein Buch des Trostes und der Hoffnung.

Bis heute ist das Buch für mich ein Schatz, ein seltenes Geschenk, das man bewahren muss. Deshalb habe ich es nur ganz besonderen Menschen geschenkt.

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Trainer für die Fantasie


© Martin U. K. Lengemann / ullstein bild

Als Kind hat mich meine Schwester jedes Wochenende zur Bibliothek
mitgezerrt. Sie hat dort Comics gelesen und ich den
Kleinen Prinzen.
Bei diesem Buch
hatte ich zum ersten Mal das Gefühl: Ich verstehe etwas von der Welt. Die Geschichte ist so
anspruchsvoll und die Sprache zugleich so einfach.

Oft haben wir den ganzen Nachmittag in der Bibliothek verbracht. Die Kinderecke war mein absoluter Lieblingsort während der Schulzeit. Zu Hause zog mich schon immer der Computer an, aber als Kind ist man am PC nur Konsument und spielt vorgefertigte Spiele. Das Lesen hat mir geholfen, meine Fantasie zu trainieren. Es war wie Ausmalen im Kopf, man durfte alle Farben aussuchen für die Charaktere. Diese Kreativität brauche ich heute wiederum beim Programmieren.

Mittlerweile besitze ich den
Kleinen Prinzen
auf Deutsch, Englisch und Chinesisch. Jedes Mal, wenn ich das Buch lese, habe ich das Gefühl, noch mehr zu verstehen, was alles drinsteckt. Die chinesische Fassung habe ich vor zwei Jahren auf einer Studienreise in Peking gekauft. Damit habe ich noch mal viel mehr Tiefe im Buch erlebt, einfach weil ich die Sprache noch lerne und sehr lange bei jedem Schriftzeichen verharre.

Wie der kleine Prinz

auf seiner Reise auf verschiedene Charaktere trifft, liest sich wie eine Parabel auf die Business-Welt. Jeder findet seine eigene Sache am wichtigsten und blickt nur aus dieser Perspektive auf die Welt. Der kleine Prinz fragt interessiert nach, will aber niemanden berichtigen. Für ihn ist es in Ordnung, dass Menschen anders denken als er. Er weiß aber auch: Er muss seine Welt von ihnen nicht beeinflussen lassen.

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Magischer Mond


© Birgit Kleber / Visum

“Hast du denn noch nicht genug?”, fragt der Mond den kleinen Häwelmann im
Buch von Theodor Storm. Es ist der zentrale Satz der Erzählung – und der meines Lebens.
Genug
heißt ein Stück auf dem Album
Vilnius,
das ich mit meiner Band
aufgenommen habe. In dem Lied geht es um den Irrglauben, die Nacht könne niemals enden. Für
den Refrain lieh ich mir Storms tadelnden Mond als Metapher für das schlechte Gewissen, das in
mir ebenso stark ausgeprägt ist wie ein immer lauernder Drang zur Maßlosigkeit.

Ich erinnere mich, dass mir mein Vater als Kind oft aus dem
Kleinen Häwelmann
vorgelesen hat. Aber ist es wirklich meine Erinnerung oder nur die Erzählung meiner Eltern? War es wirklich so, dass ich wie der kleine Junge im Buch im Bett die Beinchen aufstellte und die Decke als Segel über sie legte, während das bernsteinfarbene Licht der alten DDR-Laterne unheimliche Schatten an die Wand warf? Im Kinderbuch schreit der kleine Häwelmann immerzu: “Mehr! Mehr! Leuchte, alter Mond! Leuchte!” Er lässt sich durch die Stadt, in den Wald und schließlich in den Himmel fahren. Erst durch die aufgehende Sonne stürzt er wie ein gefallener Engel ins Meer. Heute finde ich es geradezu magisch, dass ausgerechnet diese Geschichte mich so ergriffen hat. Wusste ich etwa – als der kleine Junge, der ich war – schon vom ewigen Streben und nicht zu stillenden Perfektionismus meines späteren Lebens? Von der Sucht nach Liebe, Anerkennung und Betäubung? War das Unglück, das ich von Zeit zu Zeit empfinde, schon im Wesen dieses Kindes? Der Gedanke gefällt mir sehr.

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Von Teufeln angezogen

Inga Humpe bei der Preisverleihung des Prix Veuve Clicquot für die Unternehmerin des Jahres 2012 in Berlin
© Andreas Rentz/Getty Images

Die Himmelswerkstatt
hat mich gepackt, noch bevor ich lesen
konnte. Ich konnte als Kind mit dem Buch innerlich reisen, die detailreichen und witzigen
Bilder haben es mir leicht gemacht. Bei uns zu Hause war es eine Familientradition, es jedes
Jahr an Weihnachten hervorzuholen: Es geht um kleine Engel und Teufel, die für Kinder
Spielzeug basteln. Wenn meine Mutter es mir vorlas, war das etwas sehr Besonderes und
Kostbares, weil es einer der wenigen Momente war, in denen sie sich allein mit mir
beschäftigte.

Später habe ich es mir oft allein angeschaut, in der Küche oder, wenn ich mehr Ruhe vom Trubel im Café meiner Eltern wollte, in meinem Spielzimmer unterm Dach, mit Salzstangen und Mineralwasser als Proviant. Wenn ich krank war, habe ich mir immer genau dieses Buch zum Ansehen gewünscht.

Ich fand, die Engel in der
Himmelswerkstatt
sehen aus wie ich. Aber trotzdem haben mich die dicken, nackten roten Teufel enorm fasziniert, wie sie in ihrer Werkstatt hässliches Spielzeug für Teufelskinder basteln. Die Aufregung darüber kann ich heute noch spüren.

In den Neunzigerjahren ging ich oft in den “Tresor” in Berlin – und dass ich diesen Club als schönste Hölle empfunden habe, hat wahrscheinlich mit der
Himmelswerkstatt
zu tun. Noch heute fühle ich mich angezogen von Leuten, die nicht so funktionieren, wie die Gesellschaft es erwartet. So wie die Teufel, die sich eigentlich genauso bemühen, etwas Gutes zu tun und herzustellen wie die Engel – nur eben auf ihre Weise. Leider habe ich
Die Himmelswerkstatt
als Erwachsene nie wieder in den Händen gehabt. Ich suche es seit Jahren vergeblich.

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Alle wollten Heini sein


© S. Pick

Elf Freunde müsst ihr sein – darauf kam es damals in unserem Leben an, und
das ist auch der Titel meines liebsten Kinderbuchs, von Sammy Drechsel. Es war das erste Buch,
das mich richtig begeistert und mit zwölf zum leidenschaftlichen Leser gemacht hat, weil die
Geschichte wie aus unserem Leben geschnitten war. Plötzlich ist da ein Film in meinem Kopf
abgelaufen.

Wir Kinder waren alle fußballverrückt. Nach der Schule sind wir raus auf die Straße, als
Torpfosten haben wir Stöcke und Jacken hingelegt. Der Dorfarzt hatte als Einziger in der
Kohlearbeiter-Siedlung ein Auto. Auf der Straße spielen war also ziemlich ungefährlich.
Manchmal ging es drei gegen drei, ohne Torwart. Am Wochenende waren wir mehr, zu elft haben
wir gegen die Kinder der anderen Straßen gespielt.

Viele meiner Freunde haben damals
11 Freunde müsst ihr sein
gelesen. Alle wollten
Heini Kampe sein, ich natürlich auch. Er war der Boss im Buch, Kapitän einer Berliner
Schulmannschaft, die um die städtische Meisterschaft kämpft. Ich war damals auch Kapitän und
Trainer unserer Straßenmannschaft. Ich war der Heini Kampe von Brühl bei Köln und später von
Frechen.

Teamgeist, Ehrgeiz, Kampfbereitschaft: Das hab ich aus diesem Buch gelernt. Manchmal hab ich
mich nach dem Spiel extra noch mal im Dreck gewälzt, denn wenn ich heimkam, hat mein
Stiefvater immer gefragt: “Haste auch genug gekämpft?” Den wollte ich nicht enttäuschen. Und
der Titel des Buchs,
11 Freunde müsst ihr sein,
hat sich als Spruch in der ganzen
Fußballwelt durchgesetzt. Vom Jugendspieler bis zum Vereinsboss kennt den jeder.

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Mein Vorbild Pippi


© Anatol Kotte

Noch vier Seiten, dann aber Licht aus!, hat meine Mutter oft gesagt. Aber
danach hab ich einfach heimlich unter der Decke mit Taschenlampe weiter
Pippi
Langstrumpf

gelesen. Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl von Freiheit, als ich
in der ersten Klasse plötzlich selbst entscheiden konnte, wann und was ich lesen will. Genauso
wie Pippi, die auch macht, was sie will.

Mit fünfzehn bin ich von zu Hause ausgezogen, weg aus Pinneberg. Ich wollte Balletttänzerin
werden, auf eine Tanzschule in Hamburg gehen. Wie man alleine wohnt und sich selbst
organisiert, das habe ich von Pippi gelernt. Obwohl ich anders als sie jedes Wochenende von
Mama eine Tupperdose mit Lasagne bekommen habe, die mich durch die Woche gebracht hat.

In den Büchern, die meine Tochter liest, vermisse ich weibliche Rollenvorbilder wie Pippi.
Stattdessen: Prinzessinnen, die von einem Prinzen aus einem Keller befreit werden müssen, eine
Girl-Gang in Miniröcken, die sich um ihre Frisuren sorgt. Ich wünsche mir mehr Heldinnen, die
sich selbst aus dem Keller befreien, und Jungen, die keine Superhelden sein müssen.

Vor ein paar Wochen haben meine Eltern ihren Keller ausgemistet und mir einige Umzugskisten
gebracht. Bis jetzt trau ich mich da nicht ran, da schwappen zu viele Dinge heraus, für die
ich mich schäme. Aber mein Mann hat drin rumgewühlt und die alten
Pippi-
Bücher
gefunden. Die haben wir früher aus der Bücherei ausgeliehen und manche davon anscheinend nie
zurückgebracht. Vielleicht lese ich sie jetzt meiner Tochter vor – und schicke eine große
Spende mit Zinseszinsen an die Bücherei.

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Verschiedene Wahrheiten


© Stefan Hoyer / Intertopics

Schon bevor ich lesen konnte, habe ich mich heimlich ins Zimmer meiner
Schwester geschlichen, um in der
Unendlichen Geschichte
zu blättern. Rotes Leinen,
das “Auryn” auf dem Cover, zweifarbige Schrift: Das Buch hatte eine mysteriöse Ausstrahlung
auf mich. Ich habe mir in meiner Fantasie schon ein Universum dazu gebastelt, ohne den Inhalt
zu kennen. Mit sechs habe ich das Hörbuch gehört, mit zehn das Buch gelesen. Die zwei
verschiedenen Schriften des Buchs haben früh meinen Blick aufs Leben geprägt: Es gibt nicht
die eine Welt und Wahrheit, sondern immer verschiedene.

Bis heute ist
Die unendliche Geschichte
wie eine magische heilige Schrift für mich. Sie ist einer der frühesten Fixpunkte in meinem literarischen Leben. Sie war ein Fenster in die Welt der Fantasie und hat mir das Grundvertrauen in meine Kreativität gegeben und mich beeinflusst, wie ich mit Musik Geschichten erzähle.

Auch Bastians Lektion zu Macht und Freiheit begleitet mich im Kreativsein: Auf der Rückseite des Amuletts, das der Junge im Buch findet, steht “Tu, was du willst”. Er bekommt Macht über das Land Phantasien übertragen, muss aber lernen, dass damit nicht Willkür gemeint ist. Er merkt, dass Gutes tun gar nicht so einfach ist. Wenn ich heute meinen Sohn zwischen seinen Büchern manchmal am iPad sehe, ein Fenster in eine unfassbar große, aber sehr vorgefertigte Welt, muss ich oft an Bastian denken. Wie viele Ideen er verschlissen hat, wie lustlos er durch den Überfluss an Möglichkeiten geworden ist. Noch ist mein Sohn zu jung, um
Die unendliche Geschichte
zu lesen. Aber vielleicht schleicht er schon heimlich ans Bücherregal.

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