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Ein Rest an Hoffnung

Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs an diesem Donnerstage über den Brexit diskutieren, sollten sie eine grundlegende Frage im Auge behalten: Ist die EU nur eine Union von Regierungen oder ist sie auch ein Europa der Bürger, der Völker und der Demokratie? Noch dazu eine Schicksalsgemeinschaft?

Wenn sie nur ersteres ist, sollte man die derzeitige Brüsseler Mainstream-Linie fortschreiben und versuchen, der Regierung der britischen Premierministerin Theresa May (soweit sie noch existiert) zu helfen, ihren Deal über die Ziellinie zu bringen und Großbritannien so schnell wie möglich aus der EU herausbekommen.

Theresa May ist das Problem – und nicht die Lösung

Wenn Europa auch letzteres ist, wie der französische Präsident Emmanuel Macron eloquent dargelegt hat, müssen die Staats- und Regierungschefs anerkennen, dass die Regierung von Theresa May selbst das Problem und nicht die Lösung ist – und den Bürgern, den Völkern und der Demokratie Großbritanniens Zeit für eine bessere Ausgangsposition gewähren.

Im Jahr 2016 haben mehr als 16 Millionen britische Bürger für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt. Gäbe es eine direkte europäische Staatsbürgerschaft des Einzelnen – und nicht nur eine mittelbare Staatsbürgerschaft in Europa über die Zugehörigkeit zu einem Mitgliedstaat – hätte die EU uns gegenüber eine klare Verantwortung; uns, den britischen Europäern gegenüber. Wenn wir ein Land wären, wären wir, die 16 Millionen, nach den Niederlanden und vor Belgien das neuntgrößte Mitglied der Union. Hinzu kommen rund drei Millionen Bürger aus anderen EU-Ländern, die in Großbritannien leben. Zusammen macht das 19 Millionen.

Hunderttausende von uns werden an diesem Samstag auf den Straßen von London sein, um dafür zu demonstrieren, dass wir nicht bloß Europäer sind, sondern Europäer, die sich für die EU stark machen. Werden die europäischen Staatslenker uns einfach ignorieren?

Neben den einzelnen Bürgern gibt es die Völker dieser Inseln. Das Vereinte Königreich ist eine Nation, die aus drei Nationen besteht: England, Wales und Schottland, plus dem Teil einer vierten, Irland. Die 27 anderen Mitgliedstaaten der EU haben eine beeindruckende Solidarität mit Irland gezeigt – gegen die unverzeihliche postimperialistische Achtlosigkeit englischer Brexiteers. Aber was ist mit Schottland und seinem 5,4 Millionen-Volk? Schottland stimmte mit einer Mehrheit von 62 Prozent für den Verbleib in der EU. Erinnern sich die Staatschefs der Slowakei und Sloweniens, Lettlands und Estlands nicht daran, wie es ist, ein kleines Land zu sein, das einem größeren untergeordnet ist?

Drei Monate Verlängerung reicht nicht

Dann ist da noch die Demokratie. Man kann ja nachvollziehen, dass unsere europäischen Mitbürger auf die Operette, die das Westminster-Parlament in den letzten Monaten dargeboten hat, ungläubig und mit Spott reagiert haben. Doch trotz aller Fehler und Anachronismen ist das, was in Westminster passiert, eben echte parlamentarische Demokratie – anders zum Beispiel als das, was in Budapest geschieht. Einige lachen vielleicht über einen Parlamentspräsidenten, der sich auf eine Verfahrensregel aus dem Jahre 1604 beruft. Aber es ist auch eine Erinnerung daran, dass es das Ziel der englischen Revolutionen seit dem 17. Jahrhundert immer wieder ist, die Autorität des Parlaments gegenüber einer übermächtigen Exekutive durchzusetzen – von König Charles I. bis zu Theresa der Glücklosen. Wollen die Staats- und Regierungschefs der EU wirklich das demokratische Großbritannien herauskomplimentieren und gleichzeitig das undemokratische Ungarn umarmen?

Nicht zuletzt teilen wir das gleiche Schicksal. Macrons Vision eines Europa, das die Macht besitzt, seine Interessen und Werte in einer postwestlichen Welt zu verteidigen, wird unmöglich zu erreichen sein, wenn Großbritannien ökonomisch, mit harter Macht und „soft power“ eher dagegen arbeitet. Dass es nach dem Brexit zu einer solchen Dissonanz kommt, ist leider fast sicher.

Was also sollten weitsichtige europäische Politiker nun tun? Sie sollten Großbritannien eine Verlängerung von bis zu einem Jahr geben, mit dem klaren und erklärten Ziel, einen Ausweg zu finden, den eine Mehrheit im britischen Parlament unterstützt. Die Verlängerung könnte jederzeit einvernehmlich beendet werden.

Die EU hat bereits das bestmögliche Angebot zum Austrittsabkommen und zum irischen Backstop gemacht. Wie May selbst kürzlich im Parlament sagte: Eine Verlängerung um nur drei Monate würde uns einfach nur zu einer weiteren Klippe führen. Die britische Regierung müsste nun bis zum Fristende am 12. April alles für die Durchführung der Europawahlen Ende Mai in Bewegung setzen – sonst könnte eine fortgesetzte britische Mitgliedschaft in der EU nach dem 2. Juli, wenn das neue Europäische Parlament zusammentritt, die Funktionsweise der ganzen EU gefährden. Mir wurde allerdings auch immer wieder versichert, dass es juristische Mittel und Wege gäbe, dieses Dilemma aufzulösen – wenn nur der politische Wille vorhanden ist. Eine juristische Lösung für das Problem einer möglichen britischen Mitgliedschaft über den 2.Juli hinaus würde dazu beitragen, dass sich die britische Debatte weiterhin auf die Lösung des zentralen Problems konzentriert. Allerding scheint es weiterhin die Mehrheitsmeinung in der EU zu sein, dass Großbritannien nun eben die Wahlen zum Europäischen Parlament abhalten – oder bis Ende Juni aussteigen muss.

Kleine Veränderungen der Mehrheiten

Eine EU-Vereinbarung, die nur eine Verlängerung um drei Monate vorsieht, würde den vielversprechendsten Weg für Großbritannien und Europa praktisch ausschließen, nämlich die sogenannte Kyle-Wilson-Lösung, benannt nach dem Änderungsantrag zweier Labour-Abgeordneten. Sie haben eine Bewilligung von Mays Deal durch das Parlament vorgeschlagen, aber nur unter der Bedingung, eines zweiten, sogenannten „confirmatory“-Referendums. Darin hätte das britische Volk die Wahl zwischen einem Ausstieg mit Mays Deal und dem Verbleib in der EU. Um dieses zweite Referendum ordnungsgemäß umzusetzen – die Wahlen zum Europäischen Parlament in Großbritannien wären im besten Fall ein Testlauf, im schlimmsten Fall eine heftige Ablenkung –, würde es mindestens fünf Monate dauern, also bis in den Herbst. Einige kürzlich durchgeführte Umfragen zeigen kleine, aber wachsende Mehrheiten sowohl für die Durchführung eines Referendums als auch für den Verbleib in der EU.

Der Weg zu einem solchen Ergebnis ist noch immer schmal und holprig, wird jedoch von vielen Millionen britischer Europäer unterstützt, ebenso wie von EU-Bürgern, die in Großbritannien leben. Auch Schottland wird so gebührender Respekt gezollt.

Sogar ein weicher Brexit wäre besser als jener halbgare, unüberlegte Brexit, der derzeit im Raum steht – ganz zu schweigen von einem No-Deal-Desaster. Wenn die europäischen Regierungschefs an ein Europa der Bürger, der Völker, der Demokratie und des gemeinsamen Schicksals glauben, sollten sie den britischen Europäern diese letzte Chance geben.

Timothy Garton Ash ist Professor für Europastudien an der Oxford University.

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