Wenn einem die Flügel zum Fliegen fehlen, muss man eben eine Brücke bauen.
Jedenfalls dann, wenn man davon träumt, einen Ozean zu überqueren; übers Wasser stiefeln zu
können, wann immer einem danach ist.
Als der junge Eric Carle 1935 von seinen Eltern nach Deutschland verfrachtet wurde, muss er sich ein wenig gefühlt haben wie die kleine Raupe, die ihm Jahrzehnte später Weltruhm einbringen sollte. Nicht dass er so gefräßig war. Nein, vielmehr war auch er noch nicht zu seiner vollen Pracht und Größe gereift. Und in Deutschland wurden ihm erst einmal die Flügel gestutzt.
Eric Carle kam am 25. Juni 1929 in Syracuse, New York, zur Welt. Seine Eltern zählten zu jenen deutschen Einwanderern in die Neue Welt, die sich in den 1920er-Jahren fern der Heimat Wohlstand und ein besseres Leben erhofften. Als Kind unternahm Carle mit seinem Vater lange Streifzüge durch die Natur, schon damals begeisterte er sich für krabbelnde Insekten. Als er 1935 eingeschult wurde, bemerkte seine Lehrerin das künstlerische Talent des Jungen. Sie bestellte Carles Mutter ein und teilte ihr mit, Eric male so gern. Sie glaube, das sollte man fördern.
Sonnig und offen, so erinnerte sich Eric Carle später an sein erstes Klassenzimmer. Dunkel und einschüchternd dagegen war die Schulstube, die er einige Monate später in Stuttgart betrat. Die Großeltern hatten gebettelt, ihre Kinder mögen doch mit dem Enkel nach Hause zurückkehren. In Deutschland gehe es bergauf, ein neuer “Führer” sei an der Macht, der den Menschen Arbeit bringe. Eric Carles Eltern folgten dem Ruf.
So landete der Junge mitten im Vorkriegs-Nazi-Deutschland, wo er von Gleichaltrigen als “Ami” zwar akzeptiert wurde, in der Schule aber schnell die Bekanntschaft mit dem Rohrstock machte. “Wann fahren wir wieder nach Hause?” Kein Tag, an dem Carle seine Eltern das nicht fragte.
Künstler zu werden, wie es noch wenige Monate zuvor seine amerikanische Lehrerin prophezeit hatte, erschien ihm nun geradezu absurd. Nein, Ingenieur müsste man sein. Dann könnte man die tollsten Bauwerke errichten, sicherlich auch eine Brücke über den Atlantischen Ozean.
Es sollte noch bis 1952 dauern, bis er in die geliebte Heimat zurückkehrte und in New York als Grafiker bei der
New York Times
anfing. Nachdem er kurz vor Kriegsende noch zum Frontdienst eingezogen, aber – zu seinem Glück – verletzt worden war, hatte Carle 1945 das Studium an der Akademie der Künste in Stuttgart aufgenommen.
Sein erstes eigenes Bilderbuch
1, 2, 3 to the Zoo
entstand 1968; sein zweites nennen heute einige das berühmteste Bilderbuch der Welt:
Die kleine Raupe Nimmersatt. Im Original:
The Very Hungry Caterpillar.
In über 60 Sprachen wurde das Buch übersetzt, mehr als 50 Millionen Mal hat es sich weltweit verkauft.
50 Jahre alt wird die Raupe in diesem Frühjahr, ihr Schöpfer feiert im Juni seinen 90. Geburtstag. Als wir von der ZEIT ihn fragten, was er Kindern in der Welt heute wünscht, schickte Eric Carle uns das obige Bild. “Baut Brücken, schließt Freundschaften!”, schrieb er dazu.
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