Eine der größten Innovationen in der Psychiatrie sieht so aus:
Schrankwand, Couchtisch, Fransenteppich. Oder so: Zimmerpalme, Obstkistenregal, Sitzkissen.
Oder so: Flachbildschirm, Fernsehsessel, Katzenklo. Eine der größten Innovationen der
Psychiatrie ist das Wohnzimmer – das des Patienten, egal wie es aussieht. Seit vergangenem
Jahr dürfen Kliniken Menschen mit schweren psychischen Krankheiten statt auf der Station auch
in ihren eigenen vier Wänden behandeln. Der Psychiater kommt ins Haus, “stationsäquivalente
Behandlung” heißt das offiziell.
Die Therapie im Wohnzimmer als bahnbrechende Neuerung? Um das zu verstehen, muss man die Lage der Psychiatrie näher kennen. In dem Fach macht sich seit Längerem Frust breit, sowohl unter Patienten als auch unter Ärzten und Therapeuten. In den vergangenen Jahrzehnten blieben die großen Erfolge aus. Die Hirnforschung, auf die viele Psychiater große Hoffnungen gesetzt hatten, führte zwar zu interessanten Erkenntnissen über das Gehirn, aber kaum zu verbesserten Therapien. Auch grundlegend neue Medikamente kamen nicht auf den Markt – im Gegenteil: Pharmafirmen zogen sich aus der Forschung für Psychopharmaka eher zurück.
“Die Psychiatrie befindet sich in einer Krise”, sagt der Psychiater Stefan Weinmann. “Sie wird ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht.” Der Oberarzt am Vivantes Klinikum Am Urban in Berlin kritisiert jetzt in einem neuen Buch seine Zunft deutlich: Psychopharmaka würden zu häufig und zu langfristig eingesetzt. Weinmann fordert, stattdessen soziale Therapien auszubauen, die den Patienten helfen, am Leben teilzunehmen (siehe Interview).
In diesem Jahr werden die Weichen dafür gestellt, inwieweit ein solcher Wandel möglich ist. Klar ist schon jetzt, dass er teuer würde – das sorgt auf vielen Seiten für nervöse Reaktionen. Und für heftigen Streit.
Dabei ist die Idee, dass psychisch Kranke am Leben teilhaben sollen, nun wirklich nicht neu. Das war schon das Ziel der großen Psychiatriereform Anfang der Achtzigerjahre. Sie sollte eine “Gemeindepsychiatrie” schaffen: Die Patienten sollten statt in abgelegenen Großkrankenhäusern in Tageskliniken und Wohngruppen behandelt und in das Alltagsleben integriert werden. Der erste Schritt gelang, der zweite nicht. Stattdessen entstanden Arbeitseinrichtungen für psychisch Kranke, Wohneinrichtungen für psychisch Kranke, Freizeiteinrichtungen für psychisch Kranke. Aus der Gemeindepsychiatrie wurde vielfach eine Psychiatriegemeinde.
Heute werden schwer psychisch Kranke immer noch vor allem in der Klinik behandelt. Nach der Entlassung fallen sie oft in ein Loch. Denn die verschiedenen Helfer – Krankenhäuser und ambulante Psychotherapeuten, Pflege- und Sozialdienste – sind meist schlecht vernetzt. Und für die Finanzierung sind verschiedene Quellen zuständig: für medizinische Hilfen die Krankenkassen, für die sozialen meist die Sozialkassen. Schwer psychisch Kranke brauchen aber beides, medizinische und soziale Unterstützung. Doch wo viele zuständig sind, kümmert sich am Ende oft keiner.
Ein Ausweg wäre die Wohnzimmer-Therapie, die vor einem Jahr per Gesetz möglich gemacht wurde. Zumindest schwer kranke Patienten, bei denen die Standardbehandlung nicht ausreicht, können von gemischten Teams aus Psychiatern, Krankenpflegern, Psychotherapeuten und Sozialarbeitern zu Hause betreut werden. Wer psychisch krank ist, muss ja nicht unbedingt im Bett liegen. Er muss auch meist nicht rund um die Uhr von Ärzten überwacht werden. Und oft hilft es, wenn Patienten in ihrem vertrauten Umfeld bleiben können, außerdem können Familie und Freunde einbezogen werden. Mit der Wohnzimmer-Therapie ist die Hoffnung verbunden, dass psychische Probleme sich am besten dort behandeln lassen, wo sie entstehen – im Leben, nicht in der Klinik.
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