Frühjahr 1987: Ich
sitze in einem Tagungszentrum im schleswig-holsteinischen Nienwohld und werde
von der Organisation Youth for
Understanding auf mein bevorstehendes Austauschjahr in den USA vorbereitet.
Bislang weiß ich nur, dass ich irgendwo in Oregon, Montana oder Washington
State landen werde. Oder in Alaska, wovor ich mich einigermaßen fürchte.
Aber
gerade denke ich nicht darüber nach, was für Klamotten man am Polarkreis wohl
trägt, wir spielen nämlich das Albatros-Spiel:
Ein weiß gekleideter Mann kommt herein, gefolgt von einer weiß gekleideten Frau.
Sie hält deutlich Abstand zu ihm, während die beiden einmal den Stuhlkreis
abgehen, in dem ich und die anderen zukünftigen Austauschschüler sitzen. Wer
die Beine übereinandergeschlagen hat, wird aufgefordert, beide Füße auf den
Boden zu stellen – die Männer von dem Mann, die Frauen von der Frau. Danach
nimmt er auf einem Stuhl Platz, während sie sich zu seinen Füßen hockt. Sie
reicht ihm eine Schale mit Essen, er kaut einige Bissen, erst dann isst auch
sie. Bevor die beiden wieder gehen, drückt er ihren Oberkörper mit der Hand
drei Mal auf den Boden.
Zwei ehemalige
Austauschschüler, die die Vorbereitungstagung leiten, wollen von uns wissen,
was wir gesehen haben. Eine Kultur, in der die Frau weniger wert ist als der
Mann, logisch. Sie darf ja erst Nahrung zu sich nehmen, nachdem er gegessen
hat, und dann dominiert er sie auch noch körperlich. Mit dieser Interpretation
liegen wir so ziemlich daneben. Die fiktive Albatros-Kultur
ist nämlich ein Matriarchat, in der Frau und Erde heilig sind. Deshalb darf der
Mann nicht auf dem Boden sitzen und nur essen, wenn die Frau ihm Nahrung
anreicht. Seine einzige Möglichkeit, teilzuhaben an der heiligen Kraft der
Erde, ist, seine Hand auf ihren Rücken zu legen, wenn sie mit der Stirn den
Boden berührt.
Damals begriff ich
zum ersten Mal: Wir werten. Ständig. Und greifen dabei in Blitzesschnelle auf
einen Wertekanon zurück, den wir für selbstverständlich halten. Und das gilt
nicht nur für die Begegnung mit einer anderen Kultur – das Albatros-Spiel wird inzwischen häufig bei interkulturellen
Trainings gespielt – es gilt letztlich für jede Begegnung mit einem anderen.
In der
Tagungswoche ging es dann noch sehr viel um die eigene “kulturelle
Brille”, die wir in dem bevorstehenden Austauschjahr besser von der Nase
nehmen sollten, wollten wir die US-amerikanische Kultur wirklich erleben.
(Kultur bedeutete in diesem Zusammenhang nicht das Wahre, Schöne und Gute,
sondern die Summe aller Ausdrucksformen, die eine Gesellschaft für ihre Werte
gefunden hat.) Ohne diese Brille war tatsächlich vieles einfacher: Die Tür zu
meinem Zimmer offen zu lassen, weil meine Gasteltern sonst gedacht hätten, ich
wolle mit ihnen nichts zu tun haben.
Einen BH zu tragen, obwohl da wirklich
nichts war, was gestützt werden musste, man mich aber ohne für
“schlampig” gehalten hätte, für rasierte Beine und Achseln galt
dasselbe. Zu akzeptieren, dass mein Gastvater mir gleich zu Anfang sagte, ich
könne keine Freunde mit asiatischen Wurzeln nach Hause bringen – er war in
Vietnam gewesen und vermutlich traumatisiert, jedenfalls ertrug er keine
asiatischen Gesichtszüge in seiner Nähe. Von Schwarzen, Mexikanern und Schwulen
hielt er auch nicht viel – aufgewachsen auf einer Farm in Montana und einfacher
Arbeiter bei der Burlington Northern Railroad war er mit diesen Menschen nie in
Kontakt gekommen, besaß also keine Erfahrung, sondern nur Vorurteile.
Seine Frau und er
waren damals zehn Jahre jünger als ich heute. Schon lange haben wir nichts mehr
voneinander gehört, und seit 2016 frage ich mich gelegentlich, ob wohl auch sie
diesen Horrorclown ins Weiße Haus gewählt haben – unwahrscheinlich erscheint es
mir nicht. Was ich noch weiß, ist, dass sie sich einige Jahre nach meinem
Aufenthalt bei ihnen scheiden ließen. Weil er zu viel trank. Weil sie noch
etwas anderes wollte vom Leben, als auf einer Farm hundert Meilen südlich von
Seattle zu hocken, wo wegen unbezahlter Rechnungen dauernd der Strom oder das
Telefon abgestellt wurden. Doch 1987 hatten beide gemeinsam die Offenheit
besessen, mich für ein Jahr aufzunehmen.
Ohne dafür auch nur einen Cent zu
bekommen. Nie im Leben wären sie nach Europa gereist, aber mit mir holten sie
sich ein Stück fremder Welt nach Hause, stellten Fragen über Deutschland,
hörten zu und vor allem: erlebten,
wie ich mich verhielt. Denn logischerweise mutierte ich nicht auf der Stelle zu
einem amerikanischen Teenager. (Wobei Mickey-Mouse-T-Shirts, toupierte
Dauerwellen und grell lackierte Fingernägel zugegebenermaßen schnell ansteckend
wirkten.) Ich las weiterhin sehr viele Bücher (was mein Gastvater für eine
merkwürdige Schrulle hielt), fand American Football samt Cheerleader albern und
hatte – zumindest in der Schule – sehr wohl mit Asiaten, Schwarzen, Mexikanern
und Schwulen zu tun. Vor allem aber konnte ich mich nie an das Pathos gewöhnen,
mit dem man überall und ständig dem “Land of the Free, Home of the
Brave” huldigte.
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