Wir
treffen uns am Eingang des Friedhofs. Es ist ein warmer Tag, aber der Pfarrer trägt einen Mantel. Schweigend gehen wir den Mittelgang herunter, vorbei
an frischen Gräbern, vorbei an alten Gräbern, bis ganz nach hinten, links in
eine Ecke, wo der Friedhof schon gar kein Friedhof mehr ist, sondern eine
Baustelle. Dort liegt umzäunt von einem Messinggitter eine alte Grabstätte.
Sie wurde freigegeben für das Krankenhaus gegenüber. Jetzt ist hier Platz für
die, die sterben, bevor sie geboren werden.
Ich habe mein ungeborenes Kind verloren. Zu einem Zeitpunkt in der Schwangerschaft, wo
man schon längst denkt, jetzt geht alles gut. Wo man schon Ultraschallbilder herumzeigte, ein erstes Spielzeug kaufte.
Ich habe in den vergangenen Wochen nach Hilfe gesucht, bei Ärzten, bei Therapeuten. Ich habe nach Worten gesucht. Gefunden habe ich sie nicht.
Der
Pfarrer zieht seinen Mantel aus und holt eine Stola aus seiner Aktentasche. Er legt sie sich um. Dann öffnet er ein kleines Lederetui mit einem silbernen Gefäß
für Weihwasser. Es sieht aus wie eine Kinderrassel, denke ich. Ich fühle mich weit weg von all dem hier.
Der
Pfarrer tritt an das Grab. “Gott segne diese Kinder, die ihre Väter und Mütter
erwarteten und die doch nicht leben konnten.” Das Weihwasser spritzt über die
Erde, über die Blumen, über die Spielzeuge und die kleinen Zettel, auf denen
die Eltern die Namen der Kinder geschrieben haben. Ayse steht da,
Lin und Antonin. Von den Namen her zu urteilen, ist es unwahrscheinlich, dass aus diesen Kindern Katholiken geworden
wären. In dieser Ecke Berlins, an der Grenze zwischen Prenzlauer Berg und Friedrichshain, sind es noch nicht einmal zehn Prozent, die
überhaupt christlich sind. Aber der Pfarrer spricht von seiner Hoffnung, dass
Gott alle diese Seelen zu sich nehmen möge. Das ist, woran er glaubt. Und ich?
Beten hatte ich als Buße kennen gelernt
Ich weiß es nicht. Ich habe den Kontakt zu meinem Pfarrer gesucht, weil ich nicht mehr weiter wusste. Er hat mir vorgeschlagen, dass wir gemeinsam hier an diesem Grab, das keines ist, beten.
Bislang war mir das fremd. Gläubige Muslime sollen fünf mal am Tag beten. Was sagen sie da? Mir hat man im Religionsunterricht hat das Beten als Strafe erklärt. Nach der Beichte trägt einem der Pfarrer eine bestimmte Anzahl von Ave-Marias und dem Vaterunser auf, die man dann an einer bestimmten Stelle in der Kirche aufsagen sollte. Der Sinn erschloss sich mir nicht.
Warum
betet man überhaupt? Wenn man um etwas bittet, wenn man dankt. In einer
Notsituation. Eine
Art SMS Richtung Himmel. “Als wenn drüber wär ein Ohr. Zu hören meine
Klage”. In der Oberstufe lernte ich den Prometheus auswendig. In der
Schule, die ich besuchte, kriegte man von den Lehrern für diese
aufgeklärte Haltung Applaus. Bloß nicht gläubig sein. Wie reaktionär sei
das denn.
Beten
ist der sehr unprotestantische Wunsch nach Bevorzugung. Dass man aus der Masse
herausgehoben werden möge. Dass man bei etwas, das man selber nicht mehr
beeinflussen kann, eine Art überirdische Hilfe bekomme. Eine Supermacht, die
einem beisteht. Und es ist der kindliche Wunsch nach einem Größeren, der für
einen sorgt. Dass man sich nur einfügen müsse und jemand anderes die
Verantwortung mit übernimmt. Beten bedeutet auch Hoffen. Sich nicht mit dem abfinden, was ist.
Beten ist eine Befragung über den Zustand von mir selbst und der Menschen um mich herum. Eine Bestandsaufnahme ebenso wie
der Versuch, einen Wunsch für die Zukunft, möglichst eine bessere
Zukunft, zu formulieren.
An der Grabstätte spricht der Pfarrer jetzt zu Gott, den er irgendwo hier vermuten muss. Er erzählt
ihm von der Geschichte des Kindes. Die Geschichte, die ich ihm vor ein paar Tagen erzählt hatte. Er spricht vom Schmerz der Mutter und dem des Vaters. Ich würde ihn gerne unterbrechen. Nun ja, der Vater. Hat er wirklich verstanden, wie es mir geht? Aber ich schweige. Ich weiß, dass ich nicht recht habe.
“Vater
unser im Himmel”, beginnt der Pfarrer. “Geheiligt werde Dein Name”, stimme ich
mit ein. Automatisch. “Dein Reich komme.” Leise spreche ich die Worte dieses
uralten Gebets mit. Seine Melodie ist mir vertraut wie kaum ein anderer Text.
Ich erinnere mich, wie ich als Kind über seine Bedeutung rätselte, als mir diese
Worte noch so fremd waren. “Dein Wille geschehe.” Wie ich es mir bei der
Kommunion einfach nicht merken konnte. Wie ich es mitsprach, ohne nachzudenken. “Wie im Himmel so auf Erden.” Wie später, als die Großmutter meiner
besten Freundin starb und ich ihr im Taxi vom Flughafen das Gebet beibrachte, weil
sie, die Agnostikerin, am Grab doch mitbeten wollte. “Und vergib uns unsere
Schuld.” Wie ich, als die Ersten starben, die ich liebte, mich verzweifelt an diesem Gebet
festgehalten hatte wie an einer Formel. Einem Zauberspruch, der mich mit
diesem Jenseits, in dem sie jetzt waren, verbinden sollte. “Wie auch wir vergeben
unseren Schuldigern.” Wie ich immer wieder in Momenten der Bedrängnis nach diesem Gebet taste, es aber nie ganz greifen kann. “Und führe uns nicht in
Versuchung.” Wie ich, nach der Diagnose Edwards-Syndrom alleine in einem Wartezimmer für Privatpatienten, in das man mich geschoben hatte, versucht hatte zu beten. “Erlöse uns von dem Bösen. Amen.”
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