Gibt es ein Leben ohne smartes Handy? Die kurze Antwort lautet: Ja! Natürlich ist ein Leben ohne Smartphone möglich. Es gab ja auch schon Menschen, bevor Steve Jobs ihnen im Jahr 2007 das erste iPhone entgegenstreckte wie einst Mose seinen Anhängern die Steintafeln mit den zehn Geboten: Du sollst dich nicht langweilen. Du sollst keine Datenträger außer mir haben. Du sollst dein Betriebssystem nicht wechseln. Du sollst regelmäßig neue Apps herunterladen. Du sollst innerhalb von 15 Minuten eine Steckdose zum Aufladen erreichen können. Und so weiter.
Die lange Antwort ist komplizierter. Denn natürlich hat das Smartphone die Menschen nicht nur erlöst von den Momenten der Langeweile und des tumben Vorsichhinstarrens bei Fahrten im öffentlichen Nahverkehr, sondern bringt auch eine ganze Reihe unangenehme Nebenwirkungen mit sich. Das Smartphone nervt. Weil es ebenso Arbeits- wie Freizeitgerät ist, erleichtert und erschwert es gleichzeitig eine vernünftige Work-Life-Balance. Es macht abhängig. Anders ist nicht zu erklären, wieso Menschen im Schnitt 30 Mal pro Tag aufs Display schauen, wie eine repräsentative Studie der Unternehmensberatung Deloitte ergeben hat. Dort steht auch, dass 46 Prozent aller Smartphonebesitzer gelegentlich einen “Detox” versuchen, eine Entgiftung also, was schon sprachlich an Rauschgift erinnert, also an Rausch und an Gift und an Entzug. Wenn man mal eins hatte, ist ein Leben wieder ohne ziemlich schwierig.
“Um nicht völlig abgeklemmt zu sein und die Entzugserscheinungen zu mildern, gestatte ich mir ein paar Ersatzdrogen, um zu schauen, ob ich mein Smartphone substituieren kann.”
Gelesen habe ich schon oft davon, versucht habe ich es bislang noch nie. Ich gebe mir eine Woche. In dieser Zeit bleibt mein iPhone aus, damit ich herausfinde, was genau mir verloren geht. Um aber nicht völlig abgeklemmt zu sein und die Entzugserscheinungen zu mildern, gestatte ich mir ein paar Ersatzdrogen, um zu schauen, ob ich mein Smartphone substituieren kann. Einen Computer benutze ich weiterhin, schon allein um keine Kündigung wegen Arbeitsverweigerung zu riskieren. Notizbuch und Stift werden meine Begleiter und mein Speicher für alles, was ich ansonsten gleich wieder vergessen würde. Ein altes Nokia, zu Hause in einer vollgemüllten Schublade wiederentdeckt, hält mich erreichbar. Es ist ein Mobiltelefon im besten Sinne, ohne Farbdisplay, ohne Kamera, ohne Touchscreen, ohne Ablenkungsgefahr. Nur zum Telefonieren und für den Notfall.
Montag. Direkt nach dem Aufstehen unterdrücke ich den ersten Impuls. Frage: Warum checke ich E-Mails eigentlich schon vor dem Frühstück? Antwort: Weil ich mein iPhone die Nacht über in der Küche auflade. Griffbereit liegt es direkt neben Müslidose und Mikrowelle. Verfügbarkeit bedeutet Verführung. Dass ich diesmal widerstehe, hat mit dem roten Post-it auf dem Display zu tun, auf den ich gestern Abend mahnend “Aus!” geschrieben habe. Es soll ja Leute geben, die ihr Smartphone mit ins Bett nehmen, aber das ist pervers. Ich merke mir: Wenn die Woche vorbei ist, werde ich mein Smartphone künftig an einem unzugänglichen Ort aufladen. Vielleicht hinter dem Sofa im Wohnzimmer. Wo ich mir immer den Arm verdrehen muss, um an die verborgene Steckdose zu gelangen.
Knöpfe im Ohr und Augen am Display verschaffen Ruhe
Normalerweise hänge ich mir auf dem Weg zur U-Bahn und während der Fahrt Kopfhörer ins Ohr und höre was bei Spotify. Ich habe immer angenommen, das tue ich wegen der Musik oder den Hörbüchern, aber eigentlich geht es um etwas anderes. Ich will nicht etwas Bestimmtes hören, sondern etwas Bestimmtes nicht hören: die typischen Geräusche der Umgebung. Autolärm, die Sprüche von Irgendwasverkäufern und -habenwollern, schreiende Kinder, kichernde Teenies, nörgelnde Rentner. Knöpfe im Ohr und Augen am Display verschaffen mir Ruhe von den Zumutungen der Rushhour-Umwelt.
Erstaunlicherweise scheine ich das Problem jedoch überschätzt haben. Beziehungsweise: Es hat sich zu einem guten Teil von selbst erledigt. Weil inzwischen geschätzt drei von vier U-Bahn-Passagieren konzentriert auf ihre Smartphones blicken und teils monströs wirkende Kopfhörer tragen, ja selbst die Allerkleinsten gebannt vor sich hin daddeln, ist es im Nahverkehr angenehm ruhig. Unbekannte kreative Räume tun sich auf. Schöne Formulierungen und Gedankengänge entstehen, die ich mir für meine Artikel unbedingt merken muss. Ich schreibe sie in mein Notizbuch.
Dienstag. Vormittags muss ich mehrfach Impulse unterdrücken. Solche “Nur mal kurz bei WhatsApp schauen”-Anflüge, bei denen ich mir insgeheim sage: Merkt ja eh keiner. Geht aber auch schnell wieder vorbei. Was wohl gerade auf Twitter passiert? Ich beschließe, später am Abend auf dem Laptop eine große Rückschau der neuesten Neuigkeiten, brisantesten Breaking News und sonstigen Trendings vorzunehmen, die ich während des Tages nicht mitbekommen habe. Bis dahin: Arbeitsalltag. Twitter im Browser anzusteuern kann ich gut unterdrücken. Und einfach mal konzentriert am Stück schreiben zu können, ohne die Gedanken Socia-Media-bedingt auf Zickzackkurs zu schicken, fühlt sich gut an.
Was habe ich verpasst?
Abends erfahre ich es dann genau. Verpasst habe ich Hinweise auf Berichte, die ich unbedingt lesen soll, weil Leute darin erklären, warum sie ihre Sexualität neu in Worte fassen wollen. Tja. Etliche Tweets erläutern, welche Begriffe man künftig in welchem Zusammenhang verwenden sollte und welche nicht und warum sich jemand möglicherweise beleidigt fühlen könnte, wenn man es trotzdem tut oder unterlässt oder umgekehrt. Hmm. Nützlich sind Hinweise auf einige interessante Personalien aus der Medienszene und auf beeindruckende Infografiken, die Daten auf eine völlig neue Weise visualisieren. Klasse. Kalauer, Wortspiele und Weisheiten, die Großmutter früher nicht einmal auf ein Geschirrtuch gestickt hätte, machen den großen Rest aus. Muss wohl so sein. Zum späteren Nachlesen markiere ich den Link zu einem Ratgebertext über die wichtigsten Rahmenbedingungen für die private Hausschweinhaltung.
Habe ich mir diese Filterblase wirklich selbst eingerichtet?
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