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Mitarbeitergespräche: Was ich als Chef wirklich denke

Warum sind Chefs eigentlich nie im Büro? Arbeiten die überhaupt? Welche Vorurteile haben sie? In unserer neuen Serie “Was Chefs wirklich denken” berichtet in der ersten Folge der Leiter einer Abteilung für Human Resources eines großen Unternehmens über das Leben auf der anderen Seite. Damit er wirklich ehrlich sein kann, schreibt er wie alle Chefs dieser Serie anonym. 

Immer, wenn sich die Tür zu meinem Büro öffnet, muss ich an
meinen ehemaligen Chef denken. Es ist schon ein paar Jahre her, da betrat ich sein Zimmer. Laut Terminkalender wollten wir eine wichtige Umstrukturierung
besprechen, doch ich hatte auch noch ein privates Anliegen mitgebracht: Ich
befand mich mitten in einer Scheidung, die Kinder waren noch klein, und ich
wollte ihn darum bitten, jeden Monat drei Tage am Stück von zu Hause arbeiten
zu können. Ich hatte mich auf dieses Gespräch gefreut: Immerhin hatte ich einen
konstruktiven Vorschlag für unser Anliegen dabei und ein Problem, für das ich
schon die Lösung mitgebracht hatte. Easy, dachte ich.

Noch bevor ich zu sprechen begann, blickte der Chef, Finanzvorstand einer
großen Firma, auf seinen überfüllten Schreibtisch, drückte den Rücken durch und
saß nun kerzengerade in seinem ledernen Chefstuhl. Er sah unglücklich aus.
“Wissen Sie, jedes Mal, wenn diese Tür aufgeht”, sagt er und deutete mit dem
Finger in meine Richtung, “kommt ein Problem herein.” Er hielt inne, hob die
Hände in die Höhe, so, als wolle er den eben gesagten Satz wieder einfangen und
sagte, während er mir einen Platz auf dem ebenfalls ledernen Chefsofa zuwies:
“Sie dürfen das nicht als Klage verstehen, das ist mein Job und dafür werde ich
bezahlt.”

Fast nie kommt jemand rein und sagt: “Ich habe eine gute Nachricht.”

Inzwischen sitze ich auf der anderen Seite und weiß, er hatte recht. Etwa 50
Menschen, die meisten sind Frauen, gehören zu meiner Abteilung. Ich bin ihr
Chef: Ich habe jetzt auch einen Chefstuhl mit hoher Lehne und ein Chefsofa – vor
allem aber hat mein Büro auch eine Tür, durch die jeden Tag Menschen treten,
etwa zehn davon mit Termin und dann noch einmal die gleiche Zahl ohne Anmeldung.
Oft muss ich dann an den Satz meines Chefs von damals denken. Aber ja: Immer,
wenn die Tür aufgeht, kommt jemand mit einem Problem herein. Gerne auch mit
mehreren.

Einer fühlt sich seit Jahren unterbezahlt, die nächste fühlt sich nicht genügend
wertgeschätzt, der dritte hat Schwierigkeiten mit seinem Über-, Unter- oder
Mittelchef. Andere wollen über Sabbaticals und Elternzeit sprechen. Fast nie
kommt jemand rein und sagt: “Ich habe eine gute Nachricht.” Auch von
gelösten Problemen erfahre ich meist nur über Umwege oder durch Zufall.

Was sich die meisten Mitarbeiter nicht bewusst machen: Sie sind nicht die einzige Person, die an diesem Tag mit einem für sie entscheidenden Thema zu mir kommt.

An manchen Tagen bin ich eher Therapeut als Chef. Das ist auch vollkommen in
Ordnung, einige der besten Chefs und Chefinnen, die ich kenne, hätten auch gute
Therapeuten abgegeben. Andere wiederum wären besser Therapeut geworden, aber
das ist eine andere Geschichte. Ich würde sogar sagen: Chefs, die die
Therapeutenrolle beklagen oder ablehnen, sind falsch in ihrem Job. Für den
nächsten Satz bezahle ich gerne fünf Euro ins Phrasenschwein, weil er die
Wahrheit ausdrückt: Wer sich als Chef nicht auch für den Menschen hinter dem
Mitarbeiter interessiert, hat schon verloren. Dennoch: Auch die Mitarbeiter
können etwas dazu beitragen, damit das möglich ist.

Was sich die meisten Mitarbeiter nicht bewusst machen: Sie sind nicht die
einzige Person, die an diesem Tag mit einem für sie entscheidenden Thema zu mir
kommt. Deshalb bin ich auch in aller Regel nicht genauso gut vorbereitet wie
meine Mitarbeiter. Natürlich habe ich die wichtigsten Unterlagen beisammen und
in vielen Fällen ahne ich schon, was das Thema sein könnte. Aber Zeit für eine
ausführliche, individuelle Vorbereitung bleibt mir selten.

Für meine Mitarbeiter ist der Schritt durch die Tür fast immer der
wichtigste Termin des Tages, oft der wichtigste der Woche, manchmal gar des Jahres.
Für mich sind Termine vor allem Spiegelstriche in meinem Kalender. Ich nehme
sie – günstigenfalls – am Morgen des jeweiligen Tages, oft aber erst eine
Stunde vor Beginn zur Kenntnis. Wenn ich morgens auf meinen Kalender blicke, unterscheide
ich die Spiegelstriche in schöne und weniger schöne Spiegelstriche. Ganz
schlimme Spiegelstriche werden auch manchmal unter einem Vorwand abgesagt. Besonders
schön ist ein Spiegelstrich, wenn ich vorher genau weiß, worum es geht – und
wenn klar ist, dass nach Ende des Termins die Angelegenheit entschieden sein
wird. Am schlimmsten sind die Spiegelstriche, bei denen ich schon vorher weiß,
dass wir am Ende bestenfalls eine Zwischenlösung erzielt haben. Sprich: Es wird
einen neuen Spiegelstrich geben.

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