“Entspann dich doch mal.” Dieser Satz wird heutzutage mit insistierender
Heftigkeit immer wieder denjenigen um die Ohren gehauen, die sich privat oder öffentlich
echauffieren, die Kritik üben und aufbegehren. Schon als ich fünf war und Widerstand leistete,
haben meine Eltern mich zur “Entspannung” auf mein Zimmer geschickt, wo ich dann vor lauter
Wut so lange im Kreis lief, bis ich mich auf den Teppich übergeben musste.
Für Erwachsene gibt es im Umgang mit Wut und Anspannung ja heute glücklicherweise ein Überangebot an produktiveren Zähmungsmitteln, allen voran die Flut popkultureller Lebensverbesserungskonzepte rund um Gemütlichkeit und Gelassenheit, die in den letzten Jahren einen ungeheuren Boom erfahren haben. In einer unübersichtlichen Welt voller Krieg, Insektensterben, Großgletscherschmelzen und Burn-out, in der man ab und zu das Gefühl bekommen könnte, alles gehe langsam, aber sicher den Bach runter, sollen Achtsamkeits-Apps, Slow Food und Yogastudios unsere Konzentration auf die kleinen Dinge des Lebens lenken und Behaglichkeit bis in die letzte Faser unserer optimierungsbelasteten Körper und Seelen striegeln. Draußen brüllen die Wutbürger, aber egal, jetzt heißt es erst einmal Füße hochlegen, durchatmen und Tee trinken.
Allerdings ist das, was auf den ersten Blick als neue Gegenbewegung zur Hyperproduktivität anklingt, tatsächlich ziemlich alt. Historisch war das Privileg des Müßiggangs – und das nicht erst seit Gontscharows Archetyp des faulen Adligen Oblomov – in erster Linie der weißen Oberschicht vorbehalten, etwa in der Figur des Kolonialherrn als vergeistigt-schwelgerischer Gelassenheitsconnaisseur, der Schokolade schmatzend und Tabak rauchend die Früchte der Ausbeutung genießt.
Zur selben Zeit entsteht im Gegenzug das Stereotyp des lethargischen Sklaven als Faulpelz, dessen Arbeitsverweigerung so ganz und gar nicht als Tugend, sondern als Laster, wenn nicht gar rassisch unterlegene Charakterschwäche verbrämt wurde. Wer hier durch “Entspannung” passiven Widerstand leistete oder sich gar aktiv auflehnte, wurde öffentlich gedemütigt, ausgepeitscht oder getötet.
Es lohnt sich festzuhalten: Faulheit ist nicht das Gleiche wie Gemütlichkeit. Erstere lässt sich unter Umständen als widerständige, ja politische Praxis der Verweigerung denken. 1883 veröffentlichte Paul Lafargue, der Schriftsteller, sozialistische Aktivist und Schwiegersohn von Karl Marx, sein
Recht auf Faulheit,
eine Widerlegung des “Rechts auf Arbeit” in Form einer resoluten literarischen Attacke. Das Proletariat, so Lafargue, habe das Dogma der Arbeitsliebe, das Kirche und Staat ihm einzutrichtern versuchten, bereits so internalisiert, dass sich das Bürgertum auf seinen Schultern in einem Leben voll samtbehangener Wänste und volltrunkener Frivolitäten ergehen könne. Was sich zunächst wie eine schlagfertige Kritik an der Ausbeutung der Arbeiterklasse liest, lässt sich bei genauerer Betrachtung auch als kapitalistisches Manifest begreifen. Während er die vollgestopften Bäuche der Bourgeoisie anprangert, preist Lafargue den “erhabenen Riesenmagen” des proletarischen Müßiggängers und fordert in der Folge das Recht auf Konsum: Die Arbeiter sollen sich mehr Freizeit erkämpfen, um sich den Leibesfreuden hingeben zu können, die ihnen bis dato vorenthalten blieben.
Was aber passiert, wenn sich der sozialrevolutionäre Gedanke Lafargues in Form progressiver Reduzierung der Arbeitszeit innerhalb marktwirtschaftlicher Logiken realisiert, lässt sich bis in den Spätkapitalismus hinein nachvollziehen: Die gewonnene Freizeit ist aufgegangen in ein Spektrum an industrialisierten Freizeitbeschäftigungen. Neben Unterhaltung, Tourismus, Kulinarik und Pornografie ist das eben auch die Gestaltung der eigenen Lebensräume nach den Paradigmen der neuen Gemütlichkeitskultur. Um sich den Traum vom Landhaus mit Kaminfeuer erfüllen zu können, muss man arbeiten, am Kontostand sowie an Kenntnis und Anwendung der feinen Unterschiede neuer Wohlfühl-Ästhetiken.
Bis heute ist das Konzept der Gemütlichkeit von Widersprüchlichkeiten
durchdrungen: Die Easyjet-Fiktion mediterraner Gelassenheit existiert parallel zum Klischee der faulen Griechen und arbeitsunwilligen Geflüchteten, die dem Sozialstaat auf der Tasche liegen. Fast erleichternd scheint es für das kollektive europäische Gewissen, sich nun an den Dänen orientieren zu können, die auf Grundlage eines komfortablen Sozialsystems ein noch viel besseres Gemütlichkeitsmodell geschaffen haben: “Hygge” heißt das Kuschelsocken gewordene Credo, das sich, trotz immer wieder auflodernder kritischer Zwischenrufe, schon seit einigen Jahren weltweiter Beliebtheit erfreut. Der Klappentext des internationalen Bestsellers
Hygge – ein Lebensgefühl, das einfach glücklich macht
des Glücksforschers Meik Wiking umreißt das dänische Lebensgefühl folgendermaßen: “Von ‘Kunst der Innigkeit’ über ‘Gemütlichkeit der Seele’ und ‘Abwesenheit jeglicher Störfaktoren’ bis hin zu ‘Freude an der Gegenwart beruhigender Dinge’, ‘gemütliches Beisammensein’ oder gar ‘Kakao bei Kerzenschein’ – Hygge ist warmes Licht und ein kuscheliges Sofa, Picknicken im Sommer und Glögg-Trinken im Winter. Und Hygge ist eine Haltung, die man lernen kann!”
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