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Archäologie: Die Geheimnisse des Hügels

23 Kühe und 5 Bullen
– dieser Schuldschein war besonders viel wert. Um den
ganzen Text auf dem Dokument lesen zu können, musste Aschur-nasir das rundliche Täfelchen aus
Ton in der Hand drehen. Unter dem üppigen Betrag stand der Name eines Hirten. Dieser hatte die
Tiere “zum Weiden empfangen”, eine Art Darlehen. Das verrieten die Worte in Keilschrift. Und
er, Aschur-nasir, war der Leihgeber – in seiner Funktion als Statthalter. Wenn er verlässlich
davon ausgehen wollte, dass der hütende Schuldner die 28 Rindviecher irgendwann zurückgeben
würde, dann musste er dafür sorgen, dass die Tontafel sicher aufgehoben blieb.

Und es war wohl Eile angebracht. Angreifer hatten weite Teile seiner Stadt in Schutt und Asche gelegt. Auch Aschur-nasirs Palast war beschädigt. Es ist zu vermuten, dass der Statthalter persönlich das Dokument in ein bauchiges Archivgefäß legte – zu den übrigen Schuldscheinen, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Jede dieser kaum handtellergroßen Tafeln besaß einen bestimmten Wert, war amtlicher Beleg für eine offene Forderung. Die Schriftstücke garantierten der Obrigkeit, die Aschur-nasir als Statthalter vertrat, “zwei Ziegen” oder “vier Schafe”, “ein Zicklein” oder “einen Widder”, oder sie hatten einen Gegenwert von “sieben Talenten Blei”.

Aschur-nasir deponierte das Gefäß mit den tönernen Dokumenten in einer Kuhle im Boden seines Palastes. Er holte feuchten Lehm, deckte damit das Archiv zu – auf dass niemand in seiner Abwesenheit das Versteck mit den Zeugnissen seiner Amtsgeschäfte finden möge. Schließlich brachte sich Aschur-nasir selbst in Sicherheit.

Irgendwann, so mag der Fliehende gedacht haben – und vielleicht blickte er dabei zurück auf die zerstörte mesopotamische Stadt –, würde er wiederkehren. In besseren Zeiten. Dann bräche er das Archivgefäß aus dem Lehmversteck heraus – und triebe wie früher von Amts wegen die Schulden ein: Kühe, Bullen, Schafe und jedes einzelne Talent Blei.

Die Sonne hockt noch hinter
den nördlichen Ausläufern des Zāgros-Gebirges,
als der zweite Held dieser Geschichte die sechsspurige Autobahn verlässt und die schmale
Straße hochfährt, auf den Hügel am Rand des Dörfchens Bassetki. Der Archäologe Peter Pfälzner
parkt seinen Wagen auf dem ehemaligen Hubschrauberlandeplatz, den Saddam Husseins Truppen
einst anlegten, nachdem sie das kurdische Dorf auf der Anhöhe dem Erdboden gleichgemacht
hatten. Er steigt aus, um mit der Arbeit zu beginnen. Halb sechs ist dafür eine gute Zeit; ein
paar Stunden bleiben, bis hier, im Norden des Iraks, die tägliche Bruthitze alle Morgenfrische
verdrängt haben wird.

Die kurdischen Arbeiter, viele von ihnen aus Syrien, sind schon da. Auch die Studenten, Assistenten und Postdocs aus Deutschland, die sich wie Pfälzner den alten Kulturen des Orients verschrieben haben. Sie verteilen sich über die Flanken der geschichtsträchtigen Anhöhe. An der Universität Tübingen ist der 59-Jährige Pfälzner Institutsleiter, hier der Verantwortliche einer mehrjährigen Ausgrabungskampagne, der Chef von 40 Leuten.

Über der höchsten Stelle des Hügels flattern zwei Fahnen in der noch kühlen Brise: die deutsche und die kurdische der lokalen Partner. Pfälzner schaut hinab auf das Treiben seiner Mitarbeiter. Er ist groß gewachsen; ein Abenteurer – so wirkt er. Sonnengegerbter Teint, rundliche Brillengläser, die wilden, grau werdenden Locken hat er verwegen gezügelt, stilecht mit einem Kurdenschal. Der Platz, den er überblickt, gleicht einer Baustelle. Aber hier wird nichts errichtet, sondern Vergangenheit ergründet. Immer tiefer hinab graben sich die Archäologen und die Arbeiter, sie legen mit Schaufeln, Kratzern und Bürsten altes Gemäuer frei und rekonstruieren Schritt für Schritt die Tausende Jahre umfassende Geschichte dieser Anhöhe im Norden Mesopotamiens.

Seit 2013 reist Pfälzner
jedes Jahr nach Kurdistan. Die Behörden der
Autonomen Region im Norden des Iraks hatten ihm die Erlaubnis gegeben, einen sogenannten
Survey durchzuführen – oberflächliche Erkundungen zur archäologischen Sondierung. Auf diese
Weise sollte er auffällige Erhebungen in der Landschaft identifizieren, die sich als Tells
entpuppen könnten. Tells sind Siedlungshügel, entstanden aus Überbleibseln einstiger Dörfer
und Städte. Sie wuchsen aus der Ebene empor, weil neue Generationen ihre Wohnstätten auf den
Trümmern der früheren Bauwerke errichteten.

Die Stapel sind Archive, sie horten die Geschichte der Urbanisierung Mesopotamiens. Es gibt sie zuhauf, schließlich war die Region bereits zur Bronzezeit Schauplatz wichtiger Ereignisse. Im fruchtbaren Zweistromland gab es die ersten Staaten, die erste Schrift, das erste Beamtentum, das erste Bier. Hier wurde die Elle als Maßstab erfunden, die Mausefalle, der Streitwagen, staatliche Schulen.

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