/“Little Simz”: Der Boss im Kleid

“Little Simz”: Der Boss im Kleid

Was nach dem 29. März um 23 Uhr
mitteleuropäischer Zeit passieren wird, weiß niemand. Ob mit dem Brexit der
Zusammenhalt Europas auf dem Spiel steht und inwiefern Musikschaffende davon
betroffen sein werden, ist ungewiss. Nicht einmal der Termin ist klar. Sicher
ist nur: Es wird nicht besser, für niemanden von uns. Davon ist Simbi Ajikawo
alias Little Simz überzeugt. Die 25-jährige Rapperin gilt als Ausnahmetalent
und feste Größe der britischen Rapszene, ist bekannt für ihre provokanten Texte. Deshalb wird sie regelmäßig zur politischen
Lage in ihrer Heimat befragt. Sie spürt, dass auf Leuten ihres Alters eine
gewisse Hoffnung liegt. Die Hoffnung, dass wenigstens ihre Generation Haltung
beweist und eine kulturelle Agenda vorantreibt, den ganzen Mist aufhält. “Manchmal werde ich wie eine Politikerin behandelt. Weil ich Rap mache, denken sie, ich müsste über alles Bescheid wissen. Aber das tue ich nicht. Ich bin selbst noch dabei, vieles zu verstehen”, sagt sie im Interview. Entsprechend lautet das Mantra ihres neuen Albums, das sie bereits seit ihrem letzten Werk Stillness In Wonderland beschäftigt: Lerne dich kennen, so gut du kannst.

Zurück im Jahr 2013, als alles anfing. Mit gerade mal 19 veröffentlichte Simz ihr Mixtape Black Canvas und legte damit den Grundstein ihrer vielversprechenden Rap-Laufbahn. Mit ihrem Selbstbewusstsein und einem
außergewöhnlichen Flow überzeugte sie schon damals US-amerikanische
Hip-Hop-Größen wie Mos Def und André 3000. Sogar Kendrick Lamar zählt zu ihren
Fans und verglich sie mit der jungen Lauryn Hill – wovon Little Simz heute
nicht mehr sprechen mag. Sie braucht keinen Ritterschlag, steht in niemandes
Schatten.

Im Großmut nimmt sie es mit ihren
männlichen Kollegen locker auf, wie die ersten Worte ihres neuen Albums Grey
Area
verdeutlichen: The biggest phenomenon and I’m Picasso with the pen. In
der nächsten Strophe fordert sie dann Jay-Z heraus und behauptet, an einem
schlechten Tag noch immer so gut zu rappen wie er. Simz scheint keine Angst vor
Provokation zu haben. Das Eröffnungsstück Offence ist demnach nur der Anfang
eines vielversprechenden Rap-Manifests, das über zehn Tracks ungeheuer
kämpferisch klingt.

Die richtige Einstellung, um dem Sexismus in der Szene den Kampf anzusagen. Auch wenn das auf Grey Area nicht Simz’ oberstes Ziel ist. “Ich wurde von starken Frauen aufgezogen, die mir früh beigebracht haben, dass Frauen sich gegenseitig respektieren und unterstützen müssen, so wie es Männer untereinander tun. Wenn es um meine Musik geht, spielen solche Gedanken keine Rolle. Im Studio muss ich einfach machen können”, erzählt die Rapperin. Im Gegensatz zu ihren New Yorker Kolleginnen Angel Haze, Azealia Banks und Princess Nokia, die schon seit Jahren queer-feministischem Hip-Hop eine Bühne erkämpfen, dreht sich Simz um ihren eigenen Kosmos. Im schrillen Diskurs um mehr Frauen im Rap möchte sie nicht mitmischen, nicht auch noch den Zeigefinger erheben. Obwohl man sie schon zu Beginn ihrer Karriere als die Stimme einer neuen Generation weiblicher MCs bezeichnete und ihr attestierte, Female Rap wieder groß zu machen, reagiert Simz auf solche Zuschreibungen ziemlich allergisch. Am liebsten würde sie
Geschlechterkategorien abschaffen. Als Künstlerin will sie nur sich selbst verpflichtet sein,
das entspricht durchaus dem Selbstverständnis einer neuen Generation von
Musikerinnen, die nicht bereit sind, sich anzupassen. Little Simz’ Track Boss
könnte auch gleich die passende Hymne zu diesem Lebensgefühl sein: I don’t
need that stress. That stress, I’m a boss in a fucking dress
.

Mit Mitte zwanzig seine eigene
Chefin zu sein, unbeeinflusst von Plattenfirmen und Agenten, erfordert großen Mut. Ebenso wie die Überzeugung, die eigene Selbstbestimmtheit niemals
gegen Sicherheit einzutauschen. “In den letzten Jahren hat sich vieles an mir
verändert. Ich habe gelernt, meine Gefühle nicht mehr als Schwäche anzusehen”,
erzählt sie. “Wut und Trauer auch mal auszuleben oder vielleicht mit anderen
darüber zu sprechen. Ich denke, dieser Schritt hat meiner Musik extrem gut
getan.”

Tatsächlich scheint Simz nun auch musikalisch genau zu wissen, wo ihre Grenzen liegen und wie viel Experiment ein stimmiges Album braucht. Auch wenn sie stark in der Hip-Hop-Kultur verwurzelt bleibt, marschiert Simz auf Grey Area in alle Richtungen. Gemeinsam mit ihrem Produzenten Inflo, den sie noch aus Kindertagen kennt und der bereits für The Kooks und Michael Kiwanuka arbeitete, wechselt sie im Minutentakt von Grime zu Jazz, über Rap zu Soul. Ihre warme Single Selfish, die gleich auf den Bass von Boss folgt, zeigt ihren Mut zum Stimmungswechsel. So wie ihr Song Venom, in dem sie mit atemlosem Flow auf einen schauerlichen Jazz-Beat rappt, bevor sie in Pressure mit Unterstützung der schwedischen Synthpop-Band Little Dragon auf ungewohnt poppige Art von ihren Stärken und Schwächen berichtet. In Therapy beweist sie ihr Talent als Geschichtenerzählerin und blickt in die Zukunft: “Teach my daughter about the wonders of the world, I’m convinced if she’s anything like me I’m raisin’ a king.” Kollaborationen wie
mit Kamasi Washington im Track Flowers verlieren in dieser musikalischen Palette beinahe ihre Besonderheit. Simz ist ihre eigene spektakuläre Show und Grey Area ihr bisher bewegendstes Album. Ihre Coming-of-Age-Geschichte zeigt, wie unverbindlich, experimentell und klischeebefreit Hip-Hop sein kann. 

“Grey Area” von Little Simz ist erschienen bei Age 101/Rough Trade.

Hits: 5