In einer normalen Demokratie wäre alles ganz anders. Doch was ist in diesen Tagen in Israel noch normal? Die Reaktion des amtierenden Premiers Benjamin Netanjahu war eindeutig: Er werde auf keinen Fall zurücktreten – die Anklageerhebung gegen ihn sei ein Komplott seiner politischen Gegner, der Linken, wie er behauptete, der Medien, ja überhaupt aller, die nicht wirklich begreifen wollen, dass er und nur er der einzig wahre und richtige Führer Israels ist, denn er habe vor, dem israelischen Volk noch “viele Jahre zu dienen”. Diese Hybris in seiner im israelischen Fernsehen übertragenen Rede ist nicht nur dem Wahlkampf geschuldet, in dem sich Israel derzeit befindet. Am 9. April wählt Israel ein neues Parlament und damit auch einen neuen Premier.
Netanjahus Vermessenheit hat auch viel zu tun mit einer Entwicklung der letzten Jahre, in der sich der Premier mehr und mehr über das Gesetz stellte. Ja, sich in Gegnerschaft zum Staat empfunden und dies auch wieder und wieder in öffentlichen Äußerungen kundgetan hatte.
Anders ist seine Reaktion auf die nun am vergangenen Donnerstag erhobene Anklage des Generalstaatsanwaltes Avichai Mandelblit nicht zu verstehen. Zwei Jahre hatten die israelischen Behörden gegen Netanjahu ermittelt, hatten den Premier immer und immer wieder in seinem Amtssitz verhört, haben Beweise gesammelt, haben die Entourage Bibis, wie der Premier in Israel genannt wird, im Visier gehabt, sodass einige, um einer massiven Strafe zu entgehen, sich als Kronzeugen zu Verfügung stellten.
Ehemals Getreue wenden sich ab
Netanjahu blieb bei seinem Mantra: Wo nichts ist, könne nichts sein und werde auch nichts sein. Er beschimpfte die Polizei, die Staatsanwaltschaft, einfach alle staatlichen Institutionen, die in die Untersuchungen involviert waren. Er versuchte die Glaubwürdigkeit der Behörden öffentlich zu untergraben, in Zeiten gefährdeter Demokratien wie unter Viktor Orbán in Ungarn oder in Jarosław Kaczyńskis Polen, ein gefährliches Spiel – von Netanjahu aber durchaus beabsichtigt. Dabei kam es zu absurden Anschuldigungen, etwa gegen den früheren Polizeichef Roni Alscheich, der die Ermittlungen leitete. Alscheich war von Netanjahu in dieses Amt gehoben worden, wurde von ihm aber sofort als “Linker” denunziert, als er nicht bereit war, die Untersuchungen einzustellen.
Ausgerechnet Alscheich, ein kippatragender Religiöser, der aus einer Siedlung im Westjordanland stammt. Dieser ließ sich trotz aller Drohungen in seiner professionellen Seriosität allerdings ebenso wenig irritieren, wie jetzt Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit, der sogar Morddrohungen erhielt. Auch Mandelblit war einst ein Mann Bibis, der praktizierende Fromme war drei Jahre dessen Kabinettssekretär. Dass er sich mit seiner Entscheidung Zeit ließ, ließ viele Linke und Liberale in Israel befürchten, er werde sich nicht trauen, gegen Netanjahu vorzugehen. Doch nun tat er es. In einer 57 Seiten langen Schrift klagt er den amtierenden Premier Israels in einem Fall wegen Bestechlichkeit, Betrugs und Untreue an, in zwei weiteren Fällen wegen Betrugs und Untreue.
Nach dem Gesetz hat Netanjahu nun zunächst das Recht auf eine Anhörung, erst danach würde die Anklage offiziell werden, das aber geschieht mit Sicherheit erst nach dem 9. April, also nach dem Wahltag in Israel. Klar, dass Netanjahu und der Likud Mandelblit Wahlbeeinflussung vorwerfen. Doch die Generalstaatsanwaltschaft hielt dagegen: Das Volk habe ein Recht, zu wissen, wen es am 9. April wähle.
Damit sieht sich das Land in einer noch nie dagewesenen Situation: Ein unter Anklage geratener Premier stellt sich zur Wahl. Wie gesagt, in einer Demokratie würde ein Amtsträger normalerweise sein Amt ruhen lassen, um es nicht zu beschädigen und sich auf seine Verteidigung zu konzentrieren. Netanjahu hat das bereits ausgeschlossen und zumindest nach dem Gesetz ist das legal. Netanjahu müsste erst nach einer rechtskräftigen Verurteilung zurücktreten.
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