Seit Monaten versuchen die Abgeordneten im britischen Unterhaus die Regierungschefin Theresa May in eine Richtung zu drängen. Und sie taktiert, um dem zu entgehen. Es geht nicht mehr um konstruktive Politik. Das Taktieren zählt. Jeder verfolgt seine eigene Agenda und misstraut allen anderen. Ein politischer BBC-Korrespondent formuliert es auf Twitter so: “Die EU-Sympathisanten glauben May nicht, dass sie sich gegen die Hardliner durchsetzen wird (…) die wiederum glauben der Regierungschefin nicht, dass sie sich in Brüssel durchsetzen wird (…). Brüssel glaubt May nicht, dass sie eine Mehrheit für ihren Deal im Parlament bekommt (…) das Parlament traut dem Oppositionsführer Corbyn nicht über den Weg (…) und Corbyn traut den EU-Sympathisanten nicht (…) bitte wieder von vorn.”
Wie groß das Misstrauen in Großbritannien inzwischen ist, zeigen die Debatten und Abstimmungen im Unterhaus. Erst am Dienstag hatte Theresa May verkündet, dass sie das Parlament Mitte März erneut über ihren Brexit-Vertrag abstimmen lassen wolle. Sollte ihr Deal dann vom Parlament abgelehnt werden, könnten die Abgeordneten über den No Deal und einen Aufschub des Brexits abstimmen. Aber wer glaubt ihr noch? Wenn May im Parlament sagt, man könne sich auf ihr Wort verlassen, kommt nur noch Hohngelächter. Hatte sie nicht beteuert, es werde keine Neuwahl geben? Keinen Aufschub der Brexit-Abstimmung vor Weihnachten? Mittlerweile zählen die britische Medien mit: 108 Mal habe sie gesagt, der Brexit werde am 29. März stattfinden.
Das Misstrauen ist so groß, weil kein Abgeordneter erkennen kann, welche Strategie May verfolgt. Selbst der Elderstatesman Kenneth Clarke stellte May die Frage: “Wie wählen Sie denn selbst, wenn Ihr Deal durchfällt? Das müssen wir doch wissen. Wählt die Regierung dann für einen No Deal? Oder für eine Fristverlängerung?” Die Frage ist nicht unberechtigt. Ein Großteil der Bevölkerung versteht die Konsequenzen eines No Deal nicht, hört auch gar nicht mehr hin. Die Konservative Partei ist daher nicht unbedingt gegen einen No Deal. Auch wenn dies absurd klingt, da die Regierung gerade einen Bericht vorgelegt hat, der zeigt, wie wenig die Wirtschaft darauf vorbereitet ist. Aber May antwortete ausweichend. Sie werde sich an die Abstimmung des Parlamentes halten, sagte sie. Der rebellierenden Abgeordnete Yvette Cooper, die die Labour-Partei wegen Corbyns wankelmütiger Politik verlassen hat, reichen die vagen Antworten nicht: “Versprochen werden kann viel. Aber haben wir die rechtliche Garantie, dass wir wirklich abstimmen dürfen?” Der No Deal könne nur durch ein anderes Gesetz ausgehebelt werden.
Cooper stellte deshalb einen Antrag, der einfach nur die Ankündigung von May wiederholt, um die Premierministerin auf ihre Position festzulegen: May soll das Parlament über eine Fristverlängerung des Brexit abstimmen lassen, wenn das Parlament zuvor den Brexit-Deal und einen No Deal abgelehnt hat. Das Unterhaus nahm den Antrag mit überwältigender Mehrheit an. Nur 20 Tory-Abgeordnete stimmten dagegen. Es ist ein Triumph für Cooper – und eigentlich auch für May. Aber es ist auch ein Zeichen, wie stark das Misstrauen im Parlament ist. Den Hardlinern geht es freilich ebenso. Jetzt, wo das Parlament über eine Fristverlängerung des Brexit abstimmen darf, ist nicht mehr sicher, was dann kommt. Ihr Wortführer, Jacob Rees-Mogg, klingt plötzlich kompromissbereit. Lassen sich die Hardliner aus Angst, ihnen könnte der Brexit verloren gehen, plötzlich auf den Austrittsvertrag von May ein?
Wie beim Poker
Derweil trauen die Brexit-Anhänger Oppositionsführer Jeremy Corbyn plötzlich nicht mehr über den Weg. Corbyns Antrag auf einen weichen Brexit wurde am diesem Mittwoch abgelehnt. Aber er hatte nichts anderes erwartet. Er will nun eine Volksabstimmung unterstützen – wie und wann, das behält Corbyn noch für sich. Es ist wie beim Poker: Niemand lässt sich in die Karten schauen, jeder wartet auf den Zug des anderen, mit eiserner Miene, seine Strategie nicht preisgebend. Gerade deshalb dauert das Vabanquespiel so lang, rückt der 29. März, der Brexit-Tag, immer näher. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat recht. Den Briten sollte eine Fristverlängerung nicht zugestanden werden, wenn es nur darum geht, dieses politische Fiasko fortzusetzen.
Der Urenkel von Winston Churchill tweetet täglich ein Zitat seines Großvaters, der sich über die Feigheit der damaligen Regierung aufregte: “Und so machen sie immer weiter mit ihren paradoxen Widersprüchen: sind entschieden unentschieden; entschlossen unentschlossen, hartnäckig vage, konsequent ausweichend; machttrunken in ihrer Unfähigkeit.”
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