Andreas Nölke ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt. Er gehört seit vergangenem Herbst zu den Unterstützern der von Sahra Wagenknecht initiierten Sammlungsbewegung Aufstehen und ist auch Mitglied eines Arbeitsausschusses der Bewegung, der sich regelmäßig in Berlin trifft, und nun ein Programm vorbereitet.
ZEIT ONLINE: Herr Nölke, seit vergangenem Herbst hat es einige kleinere Demonstrationen von Aufstehen gegeben. Aber von einer Bewegung kann man eigentlich nicht reden. Ist Aufstehen damit schon tot?
Andreas Nölke: Das sehe ich definitiv nicht so. Aufstehen wirkt im Moment vor allem auf der lokalen Ebene. Die Ortsgruppen schießen wie Pilze aus dem Boden. Etwa 200 gibt es derzeit. Richtig ist, dass wir noch viel mehr Menschen hinter uns bringen müssen, wenn wir unsere Ziele erreichen wollen. Der Status quo reicht nicht, um politisch wirksam zu werden.
ZEIT ONLINE: Als im Herbst vergangenen Jahres 240.000 Menschen in Berlin gegen rechts und für eine offene Gesellschaft auf die Straße gingen, gehörte Aufstehen nicht zu den Initiatoren. Stattdessen kam von der Gründerin der Bewegung, Sahra Wagenknecht, sogar Kritik. Ein Fehler?
Nölke: Diese Demonstration hatte schon eine etwas andere Ausrichtung als Aufstehen. Das war doch eher eine Bewegung der gut etablierten, linksliberalen politischen Kreise. Bei Aufstehen liegt die Priorität bei sozialen und ökonomischen Themen, bei Verteilungsfragen.
ZEIT ONLINE: Wagenknecht hatte ja kritisiert, dass in dem Aufruf von offenen Grenzen die Rede gewesen sei, was allerdings gar nicht der Fall war. Grundsätzlich lehnt sie eine Ausweitung der Arbeitsmigration ab. Ist das auch die Haltung von Aufstehen?
Nölke: Ich stimme ihr da zu und gehe davon aus, dass wir in dieser Frage schon einen recht weitgehenden Konsens haben. Solange es in Deutschland noch viele Menschen gibt, die arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, sollte man nicht verstärkt auf die Zuwanderung von Arbeitskräften setzen. Aber wir haben kein Problem mit dem Recht auf Asyl oder damit, Menschen in humanitären Notsituationen zu unterstützen.
ZEIT ONLINE: In Deutschland herrscht derzeit allerdings fast Vollbeschäftigung. Fachkräfte werden dringend gesucht. Da ist es doch sinnvoll, Menschen aus anderen Ländern eine Chance zu geben, oder nicht?
Nölke: Vollbeschäftigung herrscht vielleicht in einzelnen Regionen oder Branchen. Aber generell gibt es immer noch eine deutliche Unterbeschäftigung. Viele Menschen tauchen in der Arbeitslosenstatistik gar nicht auf. Man müsste die Arbeitgeber zwingen, sich stärker mit diesen Menschen zu beschäftigen, und darf sie nicht aus der Pflicht entlassen, ihnen attraktive Arbeitsverhältnisse zu bieten und sie zu qualifizieren. Einfach neue Arbeitskräfte aus dem Ausland zu holen, finde ich zu einfach.
ZEIT ONLINE: Normalerweise entstehen Bewegungen nicht am Schreibtisch sondern auf der Straße, so wie die Gelbwesten-Proteste in Frankreich. Ist es nicht ein bisschen künstlich, eine Bewegung von oben gezielt gründen zu wollen?
Nölke: Ja, das ist etwas ungewöhnlich. Ohne die Initiative von Sahra Wagenknecht würde es Aufstehen in dieser Form nicht geben. Andererseits hat sich ja gezeigt, dass die Resonanz auf diese Idee unglaublich groß war, viel größer, als wir bei der Vorbereitung erwartet hatten. Es scheint, als ob da irgendwo was geschlummert hat, was Wagenknecht nun geweckt hat.
“Das hat den Enthusiasmus vorübergehend gebremst”
ZEIT ONLINE: Sie sind also von der bisherigen Entwicklung nicht enttäuscht?
Nölke: Wir waren ein bisschen naiv, was die organisatorische Fortsetzung nach der Gründung angeht. Das hatten wir nicht gut genug vorbereitet. Wir haben nicht damit gerechnet, dass plötzlich so viele Menschen da waren, die schnell aktiv werden wollten. Wir hatten auch ein paar andere Probleme zum Beispiel mit der Betreuung und Finanzierung unserer Website. Das hat den Enthusiasmus vorübergehend gebremst, jetzt sind wir aber eigentlich wieder guten Mutes.
ZEIT ONLINE: In Frankreich ist offensichtlich, dass die Menschen aus Wut und Enttäuschung über die Regierungspolitik auf die Straße gehen. In Deutschland hat man dagegen den Eindruck, dass es diese Wut gar nicht in vergleichbarem Ausmaß gibt. Wozu dann also künstlich eine soziale Protestbewegung initiieren?
Nölke: Es gibt schon eine große Unzufriedenheit im Land. Das zeigt sich ja an den Leuten, die die AfD wählen, ohne auch nur ansatzweise hinter deren Programm zu stehen. Ihnen wollen wir eine politische Alternative aufzeigen. Hinzu kommt, dass diejenigen mittlerweile ziemlich apathisch sind, denen es sozioökonomisch wirklich nicht gut geht – und das sind ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung. Es ist mir ein großes Anliegen, diese Menschen wieder zu motivieren, sich politisch zu engagieren. Aber das wird Zeit brauchen.
ZEIT ONLINE: Haben Sie denn das Gefühl, dass Sie diese Leute mit ihren Veranstaltungen bisher erreichen?
Nölke: Es gibt in der Tat Leute, die mir sagen, dass sie bei der letzten Wahl AfD gewählt haben und sich jetzt informieren wollen, ob die Sammlungsbewegung eine Alternative ist. Insgesamt bin ich aber positiv überrascht darüber, dass typische AfD-Themen wie Zuwanderung und Migration bei unseren Veranstaltungen eigentlich gar keine Rolle spielen.
ZEIT ONLINE: Auch bei den Gelbwesten-Protesten in Frankreich mischen sich ja ganz rechte und ganz linke Gruppen. Sollte sich Aufstehen mit diesen dennoch solidarisieren?
Nölke: Wir gehen von den Kernanliegen aus. Die Gelbwesten-Bewegung ist vor allem eine Bewegung der unteren Mittelschicht und der Landbevölkerung, die unter niedrigen Einkommen leiden und jetzt – als Pendler – auch noch durch eine CO2-Steuer besonders belastet werden sollten. Das sind völlig legitime Beweggründe für Protest. Wenn sich da nun rechte Gruppen anschließen, ist das für mich kein Grund, sich zurückzuziehen. Wir müssen vielmehr klarmachen, dass solche Themen Anliegen der Linken sind. Wir dürfen den Rechten nicht das Feld überlassen.
ZEIT ONLINE: Wie fließend die Grenzen zwischen rechts und links sind, merkt man allerdings auch bei Aufstehen. Zur Jahreswende wurde beispielsweise ein Beitrag auf einer Aufstehen-Seite gepostet, in dem öffentlich-rechtliche Medien als “Regierungsrundfunk” bezeichnet wurden. Das klang schon sehr nach AfD-Slang.
Nölke: Das war ein Fehler und Teil jener Organisationsprobleme, die wir jetzt noch haben. Ich würde diese Kritik an den Öffentlich-Rechtlichen nicht unterschreiben, auch wenn es in deren Berichterstattung natürlich bestimmte politische Positionen gibt, die stärker repräsentiert sind als andere. Wir haben intern deutlich gemacht, dass so etwas nicht noch mal vorkommen sollte.
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