Hinweis: Der Autor ist der Redaktion bekannt. Er möchte hier jedoch nicht unter Klarnamen berichten, aus Angst, wiederholt Opfer psychischer Gewalt zu werden. Solltest du selbst Opfer psychischer Gewalt geworden sein, findest du am Ende dieses Textes Hinweise zu Hilfsangeboten.
„Du bist zu fett!“ sagte Anna*. Immer wieder, dann griff sie mir an den Bauch, krallte sich daran fest, um zu zeigen, welches Fett sie meinte. Nur da war kaum welches, denn übergewichtig war ich nie. Aber in Annas Welt waren alle Menschen fett, die kein perfektes Sixpack hatten.
Zu dieser Zeit war unsere Beziehung schon hoffnungslos verloren, ein endloser, täglicher Kampf mit uns selbst. Aber einander zu vertraut für die Vorstellung, morgens alleine aufzuwachen. Anna verbot mir zu frühstücken, bestand darauf, dass ich jeden Tag trainieren müsse. Also schleppte ich mich nach der Arbeit müde ins Fitnessstudio. Doch durch Essensverbot, jeden Tag Sport und den ganzen Stress nahm ich noch weiter ab. Statt sorgfältig herausgearbeiteter Sixpack-Muskeln sah man jeden Rippenknochen. Als ich einen meiner besten Freunde zum ersten Mal nach langer Zeit wiedertraf, fragte er erschrocken: „Machst du eine Chemotherapie?“
Von der perfekten Beziehung zum Albtraum
Am Anfang war es wie im Märchen. Wir spielten als Kinder zusammen. Dann verloren wir uns aus den Augen und trafen uns einige Jahre später wieder. Ich war 20 Jahre alt, sie ein bisschen jünger als ich. Ich mochte ihre selbstbewusste Art. Wir verliebten uns sehr schnell ineinander.
Für uns beide war es die erste ernsthafte Beziehung. Zwar hatten wir schon ein paar Sex- und Beziehungserfahrungen als Teenager gesammelt, aber erst jetzt ging das aufregende Entdecken richtig los. Wir verbrachten ganze Wochen zusammen im Bett, schauten Filme, lachten, schliefen miteinander. Wir zogen uns gegenseitig auf, dachten uns Geschichten und lustige Spitznamen aus.
Ich fühlte mich geliebt und konnte mich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein. Es war ein Leben in einer Seifenblase, alles glänzte in den schillerndsten Farben. Wir planten vieles: Wo wollten wir später leben? Wie sollte unser Haus aussehen? Traumhochzeit. Kinder. Anna wollte als Zeichen unserer Verbundenheit schon sehr früh Verlobungsringe kaufen. Jede Seifenblase platzt irgendwann.
Wahrscheinlich begann es mit der Eifersucht: Anna wollte immer wissen, wo ich war, wen ich traf und warum. Sie durchsuchte mein Handy und erdachte die absurdesten Theorien darüber, mit welcher meiner Kommilitoninnen ich am wahrscheinlichsten fremdgehen würde. Und ich, in Angst um mein perfektes Liebesglück, ließ mich permanent kontrollieren.
Beim Sex hingegen machte sie nichts mehr an als Rollenspiele, in denen sie die Affäre meines fremdgehenden Ichs spielte. Wir wussten alles voneinander, jedes Detail unseres Lebens, Wünsche, Träume, Vorlieben, Ängste hatten wir uns in schlaflosen Nächten erzählt. Eigentlich hätten wir da schon merken müssen: Wir waren grundverschieden.
Wir hatten völlig unterschiedliche Wertvorstellungen. Anna beschrieb sich selbst als oberflächlich, egoistisch und rachsüchtig. Sie musste sich immer durchsetzen, egal zu welchem Preis. Sie fand das stark und war stolz darauf. Ich konnte mit solchen Eigenschaften nichts anfangen, lieber gab ich nach, wenn sich dadurch Streit vermeiden ließ.
„Eigentlich passen wir gar nicht zusammen“
„Eigentlich passen wir doch gar nicht zusammen“, sagte sie manchmal. Am Anfang verstand ich diesen Satz lediglich als Einforderung gegenseitiger Liebesbekenntnisse, doch je länger wir zusammen waren, umso mehr Raum nahmen diese Unterschiede zwischen uns ein.
Anna hatte einen exakten Plan für ihr Leben, alles musste genau ihren Vorstellungen entsprechen, das galt auch für ihren Freund und zukünftigen Mann. Stark sollte er sein, ein echter Beschützer, sehr gut aussehend. Außerdem Karriere machen, Geld verdienen und am besten nebenbei den Haushalt schmeißen. Einen Platz hätte ich in ihrem Leben nur, wenn ich genau ihren Vorstellungen entspräche, das machte sie mir schnell klar. Ich fragte mich, ob das auch mein Plan vom Leben war, aber ich wollte Anna und ließ es mit mir machen.
Ich verzichtete auf ihren Wunsch hin auf ein Auslandssemester, damit wir mehr Zeit zusammen verbringen konnten. Sie ließ sich von einem Auslandsaufenthalt hingegen nicht abhalten.
Wenn wir über WhatsApp stritten, blockierte sie mich plötzlich, manchmal für einen ganzen Tag. Danach wollte sie dann eine Entschuldigung hören. Das funktionierte immer: Ich gab nach und die Welt war wieder in Ordnung.
Regeln und Rache
Im Laufe unserer Beziehung dachte sie sich immer wieder neue Regeln und Bestrafungen für Regelverletzungen aus. Sie verbot mir, Freund*innen oder Kommiliton*innen zu treffen, Bier zu trinken, auf Festivals zu gehen. In der Hoffnung, den Menschen, den ich so geliebt hatte, zurückzubekommen, versuchte ich, jeden ihrer Wünsche und alle Regeln zu erfüllen und entschuldigte mich selbst für Sachen, für die ich nichts konnte.
Sie fand immer wieder neue Gründe, Streit anzufangen. Sie machte mich und Menschen und Dinge, die ich mochte, oft schlecht: „Deine Freunde sind total peinlich, willst du wirklich sein wie die, willst du die echt sehen?“, fragte sie mich. Alles war irgendwann peinlich: Liebesbriefe, Ich bei Partys ihrer Freund*innen, Sachen, die ich toll fand.
Mehrmals machte sie zum Spaß Schluss und drohte mir, mit anderen zu schlafen. Wenn wir uns wieder versöhnten, sagte sie dann Dinge, wie: „Ich will mit dir zusammen sein, ich mag es nur zu sehen, wie Du dich um mich bemühst.“
Immer wieder benutzte sie auch Sorgen und Ängste, die ich ihr anvertraut hatte, im Streit gegen mich.
Ich war unglücklich, fühlte mich ungenügend und suchte trotzdem die Schuld bei mir. Anna bestimmte alles und zerstörte mein Selbstbewusstsein. In Annas Darstellung konnte sie jeden haben, mit jedem schlafen, während ich nur sie haben konnte und vor allem nie wieder jemanden wie sie haben könnte.
Manchmal prahlte Anna mit früheren Sexerlebnissen, nicht weil wir mit unserem Sexleben unzufrieden gewesen wären – das war lange der einzige noch funktionierende und streitfreie Teil unserer Beziehung –, sondern weil sie wusste, dass sie mich damit verletzen würde. Immer wieder benutzte sie auch Sorgen und Ängste, die ich ihr anvertraut hatte, im Streit gegen mich. Für mich war das eine rote Linie, die auch im Streit nie überschritten werden darf.
Ich fragte mich inzwischen oft, wieso ich Anna überhaupt liebte. Dagegen wehren konnte ich mich trotzdem nicht.
Ich fühlte mich wie ihr Gefangener
Das Ende unserer Beziehung war lang und qualvoll. Wir hatten uns versprochen, den Sommer zusammen bei Anna zu verbringen. Ich wollte wegfahren, wenigstens eine Woche dem lähmenden Alltag entfliehen und Zeit mit meinen Freunden verbringen. Wir stritten, Anna schlug mir mit der Faust ins Gesicht – ich hatte mich einmal durchgesetzt. Ich ging, fühlte mich schuldig und hatte das Gefühl, etwas furchtbar falsch gemacht zu haben. Ein paar Tage später kam ich zurück. Ich hatte es nicht mehr ausgehalten.
Unsere Beziehung war zwar offiziell vorbei, aber Anna bestand darauf, auch den Rest des Sommers gemeinsam zu verbringen. Jeden Morgen hoffte ich, wir würden so lange wie möglich schlafen, damit sie weniger Zeit hatte, sich Gemeinheiten auszudenken. Sie sagte: „Wir sind nicht mehr zusammen, aber wenn du gehst, ist es für immer vorbei.“ Obwohl es mich krank machte, wollte ich in ihrer Nähe sein. Ich fühlte mich wie ihr Gefangener. Als der Sommer vorbei war, die Uni wieder begann und ich Annas Wohnung verließ, versteckte sie sich. Nach drei Jahren Beziehung verabschiedeten wir uns nicht mal.
Heute habe ich keine Rachegefühle, empfinde keinen Hass, aber frage mich jeden Tag, warum sie das alles getan hat. Ganz selten vermisse ich sie. Ihre verrückten Ideen, dieses Lachen irgendwo zwischen süß, gehässig und Psychopathin. Ich habe nie wieder eine Person kennengelernt, die so intensiv ist; im Guten wie im Schlechten. Wenn ich ein Foto von ihr sehe, irgendeine Situation mich an sie erinnert oder ich einfach nur ihren Namen lese, bekomme ich nach wie vor Herzrasen: Ihre Vorwürfe, die Unzufriedenheit mit meinem eigenen Körper und das Gefühl, irgendwie nicht ganz in Ordnung zu sein, verfolgen mich bis heute.
*Name geändert
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Bei der Telefonseelsorge findest du online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Du kannst dich dort anonym und vertraulich beraten lassen.
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