Aha, mal wieder ein Text über Flüchtlinge. Heißt, jeder
Leser ist frei, gar nicht erst zu klicken oder schnell wieder wegzuklicken. Selbst zu entscheiden, wie sehr man sich
mit dem großen, ständigen, seit über vier Jahren nicht mehr verschwindenden
Thema konfrontiert; sich zu empören oder zu erwärmen oder wasauchimmer.
Alexandra Wiegert hat diese Freiheit nicht, sie muss sich jedes Mal
konfrontieren. Das ist ihr Job.
Wiegert weiß aber, dass viele des Themas überdrüssig sind;
dass sich, so nennt sie das, der Wind gedreht hat, politisch auch; und sie weiß
ferner zu berichten, dass auch die Flüchtlinge das merken, zum Beispiel, wenn
sie mal wieder an der Kampagne für die freiwillige Heimatlandrückkehr
(“Dein Land. Deine Zukunft. Jetzt!”) vorbeilaufen, die das Innenministerium im ganzen Land und eben auch in Hamburg hat plakatieren lassen.
Aber davon erzählt Wiegert erst ganz am Ende, also jetzt erst mal zurück zum
Beginn des Besuchs bei dieser jungen, mutigen Frau, die für das Rauhe Haus
traumatisierten Flüchtlingen hilft.
Wiegert, 30, empfängt in einem Klinkerklotz nahe der
Burgstraße. Hier hat das Projekt JuLi seinen Sitz. JuLi, das steht für Just
Living, was ziemlich einfach klingt, es aber natürlich nicht
ist. Es ist ja nie einfach, wenn es um Flüchtlinge geht.
Wiegert hat übrigens
erst nach einigem Zögern zugesagt. Hat sich also nicht aufgedrängt, vielmehr
war es andersherum. Man selbst wollte wissen, ob und wie denn eigentlich
den ganzen Flüchtlingen geholfen wird, die traumatisiert bei uns ankommen, aber
mit unklarem Bleibestatus noch nicht therapiert werden können. Sind die sich
selbst überlassen? Nein, sind sie natürlich nicht. Weil es Leute wie Wiegert
gibt. Andererseits gibt es garantiert nicht genug Wiegerts für all diese
Menschen.
Wiegert und ihr Kollege werden dann angerufen, wenn es irgendwo knallt
Drei Viertel der Flüchtlinge, die aus Syrien, Afghanistan
und dem Irak kamen, haben nach eigenen Angaben verschiedenste Formen von Gewalt
erlebt, stellte eine bundesweite Studie der AOK zum gesundheitlichen Zustand
Schutzsuchender fest. Sie seien oft gleich mehrfach traumatisiert. Durch das,
was sie auf der Flucht ereilt hat, durch einen Krieg, der sie die Flucht erst
hat ergreifen lassen, durch Folter, Lagerhaft, Vergewaltigung, Misshandlung. Nur
22,5 Prozent der Geflüchteten dieser Länder, so das Fazit der Studie, würden
nicht unter einem Trauma leiden.
Wiegert bittet in ihr Büro, nicht nur den Reporter,
auch einen jugendlichen Geflüchteten, der mit seiner Mutter im Wartezimmer
sitzt. Aus Gründen der Diskretion sollen sein Name, das Land, aus dem die
beiden kommen, und allzu konkrete Gesprächsinhalte hier nicht zitiert werden.
Aber wie lockert sie diese Menschen, das will man wissen, wie öffnet sie die?
Hat Wiegert, die studierte Psychologin und Islamwissenschaftlerin, erstaunliche Zwischenmenschlichkeitskniffe auf Lager? Erzählt sie erst mal von
sich, davon, wie sie kurz nach der Revolution in Kairo gelebt hat, vielleicht
auch, dass sie ja selbst einst ein bisschen fremd war in dieser Stadt, weil sie
aus Freiburg kommt?
Wie geht es dir heute?
Gut, doch, gut.
Und die vergangenen Tage und Wochen? Wie waren die?
Gut. Besser.
Besser? Das ist doch toll!
Hm.
Was machst du denn so?
Wann?
An einem normalen Tag. Such dir was aus. Womit verbringst du
deine Zeit?
Ich mache ja nicht viel.
Aber es interessiert mich. Was heißt das denn, du machst
nicht viel?
Ich lese ein bisschen. Ich gucke auch Videos, auf dem Handy.
Erzähl mal, was guckst du denn so? Kenne ich das?
Und so geht es weiter. Wie, das ist alles? Dafür braucht es diesen Text? Dafür habe
ich bis hierhin gelesen? Unbedingt! Das ist die Erkenntnis: Wiegerts Fragen
sind nicht dramatisch, nicht spannend, nicht freudianisch an verborgenste
Gefühlstiefen rührend. Sie mögen in ihrer smalltalkhaften Undsonstsoigkeit
sogar naiv, ja irritierend wirken, aber dem Befragten geben sie das Gefühl: Da
interessiert sich eine echt für mich. Die will sogar wissen, welche Handyvideos
ich gucke. Und dann wird aus einer Silbe ein Satz, werden aus einem Satz
vielleicht drei, wird aus drei Sätzen unbemerkt ein Gespräch.
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