„Hey, du hast ja schöne Augen“ – „Hey, du hast ja einen schönen Ozean!“ Verstörtes Schweigen. Aber wenn doch das Meer das Einzige ist, was man auf dem Profilfoto erkennen kann? Schon eine Stunde nach meiner x-ten Anmeldung bei Tinder wird wieder klar: Ich bin immer noch nicht für Dating-Apps geschaffen. Mein Daumen krampft vom Swipen, meine Augen vom ungefragten Anblick diverser Penisse und mein Kopf vor Rechtschreibfehlern in zwei Sprachen.
Warum ich mir das dann antue? Ich muss ja schließlich nicht. Tja, gute Frage.
Es ist so etwas wie ein urbaner Mythos: Jede*r kennt jemanden oder hat von jemandem gehört, der*die auf Tinder wundervolle Menschen getroffen hat. Also könnte ja was dran sein, rein theoretisch. Das funktioniert bei mir in großen, aber regelmäßigen Abständen so zuverlässig wie der gelegentlich ausgefüllte Lottoschein; kann ja nicht schaden und wenn nichts dabei rumkommt, macht es nichts.
Naja, und ganz ehrlich: Wenn man eine ungute Erfahrung lange genug hinter sich hat, probiert man’s irgendwann doch wieder – nur um zu merken, was für eine dämliche Idee das war. Stichwort: Sambucca. Need I say more?
Say hello to Axolotl Rose
An der diesjährigen Tinder-Anmeldung ist mein Ex-Mitbewohner schuld. Nach dem Scheitern seiner Ehe und dem schmerzhaften Trennungsprozess hat er sich unlängst einen witzigen, charmanten, attraktiven, herzensguten Mann ertindert, mit dem er lauter zauberhafte Dates hat. Er leuchtet richtig, während ich unterdessen lediglich ein bisschen grün vor Neid werde. Fast, ich gönne ihm den Spaß natürlich von Herzen. Ach, und meine Kommilitonin ist außerdem seit drei Jahren glücklichst mit ihrer Tinder-Bekanntschaft verbandelt. Gut, warum nicht, ich bin ja jetzt in Schottland und vielleicht…
Mein erstes Match ist ein Axolotl. Natürlich ist es verdächtig, wenn sich jemand für einen Schwanzlurch als Profilfoto entscheidet, aber die Bio klang so witzig und … Jaja, schon gut. Ich weiß.
Aber: Axolotl Rose, wie ich ihn nenne – vorausgesetzt, es ist überhaupt ein er und kein Bot – ist ziemlich nett und lustig. Wir schreiben bis in die Nacht und ich muss ein paar Mal so laut lachen, dass ich fürchte, meine Nachbarin aufzuwecken. Humor und Gehirn sind zwei der attraktivsten Qualitäten, die ein Mensch mitbringen kann, denke ich. Und dann sofort: Was zur Hölle ist mit dem Rest?
Wahrheit oder Pflicht?
Wenn Axolotl kein Bot ist, ist er vielleicht ein berühmter Schauspieler, der nicht bloß wegen seines Fames geliebt werden will, denke ich, und gleich darauf, dass ich mir vorm Einschlafen keine Romcoms mehr reinziehen sollte. Beim Swipen sehe ich überdurchschnittlich viele Herren mit Biergläsern posieren; etliche Fotos von stolzen Anglern mit ihren Fischen; Männer mit Gewehren, Zigarren oder ulkigen Hüten; Typen in Haifisch-Kostümen, Kilts und Badeshorts; erstaunlich viele, die Hundewelpen, Neugeborene oder sexy Politessen im Arm halten; einige mutmaßlich auch Ex-Partnerinnen oder Mütter.
Pling! Mir schreibt ein Mann im Leinenhemd und präsentiert sich als Franzose mit auffällig lückenhaften Grammatikkenntnissen. An dieser Stelle einen kleinen Gruß an meinen alten Französischlehrer, Herrn Sojka! Dann ist da noch ein Typ, der vorschlägt, mich von Kopf bis Fuß mit Honig einzureiben – ganz ohne Erkältung.
Ach, auf jeden Topf passt irgendein Deckel, denke ich. Und das ist gut und schön. Allerdings denke ich auch, dass ich dann eventuell das Haushaltswarengeschäft wechseln sollte. Keine 24 Stunden auf Tinder und ich will mich wieder löschen.
Axolotl hat sein Profil aus beruflichen Gründen fotolos gehalten und schreibt: „Komm, wechseln wir zu WhatsApp. Dann kannst du sehen, wie ich wirklich aussehe und mich direkt ghosten. Ich sehe aus wie eine Bulldogge. Los, bringen wir’s hinter uns.“
Oberflächlichkeit galore bei Tinder
Eins muss man ihm lassen: Er ist eine ehrliche Haut. Axolotl Rose sieht tatsächlich aus wie eine Bulldogge. Was absolut kein Problem wäre. Aber er ist leider nicht mein Typ, was auch immer das heißen mag. Selbstverständlich ist Aussehen nicht das Wichtigste und ich bin weiß Gott selbst auch eher verfressener Beagle als getrimmter Zuchtpudel, so vollkommen egal ist es aber auch nicht, zumindest nicht am Anfang.
Und exakt deshalb mag ich kein Onlinedating via Tinder und Co. Axolotl Rose und ich schreiben noch ein paarmal hin und her, dann schläft der Kontakt beidseitig ein. Ich bin wahrscheinlich auch nicht wirklich sein Typ. Und das ist okay.
In einer Bar wäre das anders gelaufen. Selbst im schmeichelhaftesten Zwielicht und nach drei Gläsern Crémant erkennt man noch, ob das Gegenüber die erforderliche Mindestgröße erfüllt, um bei Gesprächen im Stehen auf Augenhöhe zu bleiben. Also, sollte das ein Kriterium sein. Im echten Leben sieht man, ob sich jemand echsenhaft, geschmeidig oder knorrig bewegt, ob die Zähne zu schief oder zu gerade sind, ob der Bauch kuschelig oder das Grübchen tief genug ist. Jeder Mensch fährt nun mal auf unterschiedliche Dinge ab.
Vor allem jedoch sieht man, ob die gesamte Ausstrahlung passt. Wenn zwei Menschen gleichzeitig mit ihren Schmierfingerchen in die Schale mit den versifften Erdnüssen greifen, springt der Funke über – oder eben nicht. Es gibt Dinge, die das Internet einfach nicht kann.
Next? Nö!
Ich werfe noch einen amüsiert-angewiderten Blick auf das letzte Penisfoto, dann lösche ich mein Konto bei Tinder frohen Herzens wieder. Für immer. Ist ja nicht so, dass ich wie Rapunzel verträumt und leicht angeeinsamt in meinem Türmchen hocke. Nein, statt mich mit Smartphone oder Computer dem Onlinedating hinzugeben, werde ich mal was ganz Verrücktes tun: Meine Jogginghose gegen eine Jeans tauschen und in einen Pub gehen. Wenn es für mich nämlich einen Deckel geben sollte, dann den in einer Bar.
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