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Ilmenau: Hunger auf Macht

Zwei Tage vor seinem ersten Arbeitstag als Oberbürgermeister der Stadt
Ilmenau sitzt Daniel Schultheiß in einer Kneipe, vor sich Chiliburger und Bier, und
diskutiert, wie er denn übermorgen in sein neues Büro gehen soll.

Einfach vorn rein, und gut ist? Nein, sagt ein Bekannter von Schultheiß, feierlicher müsse das sein. Was man aber genau macht, wenn ein neuer Oberbürgermeister ins Amt kommt, das weiß in Ilmenau niemand. Denn es ist seit 28 Jahren nicht vorgekommen. Da sei es das Mindeste, findet der Freund, wenn Daniel Schultheiß sich von ihm zu seinem ersten Arbeitstag chauffieren lasse, denn “das mit der Bockwurst geht doch jetzt erst so richtig los”.

Dass Schultheiß, 38 Jahre alt, bislang Kommunikationswissenschaftler von Beruf, mit 51,4 Prozent der Stimmen zum hauptamtlichen Oberbürgermeister gewählt wurde, ist eine Sensation. Weil schon der Name seiner Wählervereinigung den Eindruck erweckt, er habe es mit seiner Kandidatur nicht ganz ernst gemeint. “Pro Bockwurst” heißt sie, Schultheiß hat sie vor knapp zehn Jahren selbst mit gegründet. “Pro Bockwurst”, so stand es auch auf dem Wahlzettel hinter Schultheiß’ Namen.

Ernsthaft? Sind die Menschen in Ilmenau, einer Stadt südlich von Erfurt mit rund 30.000 Einwohnern, so enttäuscht von den Parteien, dass sie lieber eine Spaßtruppe ins Rathaus schicken?

Wenn man Daniel Schultheiß trifft, muss man ihm diese naheliegendste aller Fragen stellen. Er, Typ Start-up-Gründer, große Kunststoffbrille, bekommt sie ständig zu hören. Als er die Wahl gewonnen hatte, titelte
Bild:
“Politik immer irrer – Kleinstadt wählt Bockwurst-Bürgermeister”. In der
Thüringer Allgemeinen
forderte ein Kommentator die Bockwürste auf, ihren Namen abzulegen, um Ilmenau nicht deutschlandweit zum Gespött zu machen. Schultheiß sagt: “Natürlich ist der Name schräg.” Aber erstens laute er vollständig: “Initiative für Bildung, Wissenschaft und die Manifestierung der Bockwurst als Kulturgut”. Und zweitens sei es ihm viel ernster mit der Politik, als der Name suggeriere.

Tatsächlich ist seine Geschichte das Gegenteil von Politik-Klamauk. Es könnte sogar sein, dass ausgerechnet dieser Bockwurst-Bürgermeister mit feiner Ironie und ganz unverbissen ein Mittel gefunden hat, Politik lebendiger zu machen.

Am Anfang der Geschichte stand Schultheiß’ persönliche Verdrossenheit, so erzählt er es. 2009 saß er, zugezogen aus Südthüringen, mit Kollegen in der Mensa der TU Ilmenau. In der Stadt standen Kommunalwahlen an. Die Runde hatte sich schon darauf geeinigt, mitmachen zu wollen, statt immer nur über ihren Mittagessen zu sitzen und zu meckern. Darüber, dass zu wenig für die Kultur getan werde. Dass alles immer über den Kopf der Leute hinweg entschieden werde. Dafür in eine Partei einzutreten erschien ihnen, so formuliert Schultheiß oft, “nicht besonders niedrigschwellig”. Also sollte es eine eigene Wählervereinigung sein. Dann wurde die Zeit bis zur Wahl plötzlich knapp, und es gab noch keinen Namen für das Vorhaben. “An dem Tag gab es Bockwurst in der Mensa, und so hießen wir eben Pro Bockwurst”, sagt Schultheiß. Es war die Zeit der eher rechten Pro-Bewegungen, die mit ihren Namen zwar vorgaben, für etwas zu sein, tatsächlich aber fast immer gegen etwas waren. “Wir wollten das ein bisschen karikieren”, sagt Schultheiß. “Quatsch wollten wir aber nie damit machen.”

Wie ernst sie es meinten mit der Ernsthaftigkeit, konnte Pro Bockwurst schnell beweisen. Aus dem Stand schafften es zwei Vertreter der Wählervereinigung 2009 in den Stadtrat. Pro Bockwurst sorgte dafür, dass die Ilmenauer künftig Vorschläge machen durften, wofür das Geld in ihrer Stadt ausgegeben werden sollte. Und setzte durch, dass jeder Bürger während der Sitzungen des Stadtrats Fragen stellen durfte – eine Sache, die man in Ilmenau noch nie gemacht hatte. 2012 trat Daniel Schultheiß erstmals zur Oberbürgermeisterwahl an. Damals siegte noch der langjährige Amtsinhaber. Aber Schultheiß holte 29 Prozent. Eine erste Duftmarke.

Eigentlich gab es in Ilmenau zunächst keine Wechselstimmung, denn die Stadt floriert. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Schulden sind moderat. Es gibt bereits eine Schwimmhalle, trotzdem wird eine neue gebaut. Die Universität zieht Menschen an. Und es herrscht Dankbarkeit für den alten Amtsinhaber Gerd-Michael Seeber, CDU. Seeber holte bei seinen drei letzten Wahlen stets mindestens 60 Prozent, und als er zu alt war, um noch einmal anzutreten, nahmen viele in der Stadt an, dass niemand anderes als ein Kandidat der CDU ihm nachfolgen würde.

Dass es anders kam, dass Daniel Schultheiß gewann, liegt nicht an ihm und Pro Bockwurst allein. Es liegt auch an Männern wie Klaus Leuner, 73, seit fast 20 Jahren im Ilmenauer Stadtrat und dort Chef der Linksfraktion. Leuner hätte Grund gehabt, Schultheiß seinen Erfolg zu neiden. Aber er entschied sich, ihn zu unterstützen. Dinge wie den Bürgerhaushalt oder die Bürgersprechstunde, erzählt Leuner, halte seine Linke schon seit Jahren für eine gute Idee. “Irgendwann sind wir so was aber schon aus Verzweiflung und Selbstschutz nicht mehr angegangen, weil wir das nie durchgekriegt hätten.” Als dann Pro Bockwurst kam, sei das belebend gewesen, alles Mögliche sei durcheinander gekommen. Auf einmal habe man sich wieder etwas getraut. Deswegen hat Leuners Linke entschieden, mit SPD, Grünen, Pro Bockwurst und einer weiteren Wählervereinigung Daniel Schultheiß zu unterstützen. “Die Menschen in Ilmenau haben schnell gemerkt: Da sitzen kluge Leute und machen gute Arbeit, die kann man wählen.”

Dass Daniel Schultheiß die Bürgernähe tatsächlich sucht, lässt sich jeden Dienstag besichtigen. Seit er sich entschlossen hat, Kommunalpolitiker zu sein, ist er einmal wöchentlich in einer Kneipe. Bürgernähe könne doch – das war eine der ersten Ideen von Pro Bockwurst – in der Praxis dies sein: ein regelmäßiger Polit-Stammtisch, zu dem kommen kann, wer will. Nur 15-, höchstens 20-mal, sagt Schultheiß, habe er in den vergangenen zehn Jahren gefehlt. Manchmal kamen eine Handvoll Bürger, manchmal blieben Schultheiß und seine Mitstreiter unter sich. “Ich würde nie sagen: Wenn jetzt nicht jede Woche fünf Leute kommen, mache ich die Tür wieder zu”, sagt er. “Ich finde es viel wichtiger, dieses Angebot überhaupt zu machen.” Und sie kämen schon, die Bürger, wenn sie Sorgen haben. Manchmal bringen sie einen ihnen unverständlichen Abwasserbescheid mit, manchmal wünschen sie sich Tempo 30 in ihrer Wohnstraße. Und manchmal will Daniel Schultheiß von ihnen wissen, was er davon halten soll, dass da jetzt ein großes neues Parkhaus in der Innenstadt geplant ist, ob das wirklich nötig ist. “Warum sollte man nicht auch als gewählter Volksvertreter die Leute fragen?”, fragt Schultheiß. “Ich finde nicht, dass ich alles weiß.”

Man kann das belächeln, Tempo 30, Parkhaus, Kneipenabende und die ganze Pro-Bockwurst-Geschichte. Man kann Daniel Schultheiß aber auch einfach fragen: Könnte all das helfen, damit die Menschen nicht immer nur entweder abwinken oder wütend werden, wenn es um Politik geht? Es dauert ein bisschen, bis Schultheiß seine Antwort darauf laut zu Ende gedacht hat. Zuerst findet er die Annahme eine Nummer zu groß, seine kleine Wählervereinigung könne das politische Rezept gefunden haben, nach dem alle suchen. Er findet sogar schon den politischen Teil im Wort “Kommunalpolitik” falsch für das, was er nun als Oberbürgermeister tun wird. “Ich spreche lieber von kommunaler Arbeit”, sagt er, weil es eben nicht um die großen gesellschaftspolitischen Fragen gehe, sondern darum, ob die Mülltonnen pünktlich abgeholt werden. Aber dann hat Schultheiß doch eine Idee für die große Politik. “Die Parteien müssten mal wieder ein echtes Angebot machen für die tatsächlichen Probleme der Leute”, sagt er, dafür etwa, was mit der Rente zukünftig werden solle oder mit der Kinderbetreuung. “Die Menschen haben faktisch andere Probleme als die, die politisch gerade bearbeitet werden.”

Jetzt muss sich Schultheiß, der seit November im Amt ist, selbst erst einmal beweisen. Ilmenau, sagt er, muss die frisch eingemeindeten Orte integrieren, braucht ganz dringend neue Kindergärten, und außerdem sollen, nach Jahren immer neuer Großprojekte, mal die kleinen dran sein: Sportvereine, Kulturvereine, Leute, die etwas bewegen wollen. Die Erwartungen an Schultheiß jedenfalls sind riesig, auch von den eigenen Leuten. “Nicht der Oberbürgermeister entwickelt den Ort, die Bürger machen das”, sagt ein Pro-Bockwurst-Mitstreiter. So gesehen, das Politikmodell von Pro Bockwurst zu Ende gedacht, hat ein Oberbürgermeister eigentlich gar nicht so viel mitzureden.

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