Mit etwa 50 Frauen und 100 Männern hatte Walter Gropius gerechnet. Doch es kamen deutlich mehr Frauen. Denn was der Architekt und Gründer des Bauhauses in seinem Manifest im April 1919 veröffentlicht hatte, klang revolutionär: „Aufgenommen wird jede unbescholtene Person ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht“. Viele junge Kunststudent*innen folgten dem Aufruf nach Weimar, denn die meisten Kunstakademien dieser Zeit weigerten sich, Frauen aufzunehmen. Für eine künstlerische Ausbildung blieb ihnen nur teurer Privatunterricht. Doch die Bilanz aus 14 Jahren Bauhaus ist ernüchternd: In den Kreis der Lehrenden schaffte es gerade einmal eine Frau.
Ihr Name war Gunta Stölzl. Ein halbes Jahr nach der Gründung des Bauhauses schrieb sich die damals 22-Jährige in Weimar ein. Mit reichlich Vorerfahrung: Vier Jahre hatte sie bereits an der Königlichen Kunstgewerbeschule in München studiert: Dekorative Malerei, Kunstgeschichte und Stillehre. Eigentlich wollte Stölzl Glasmalerin werden, entschied sich, von Selbstzweifeln geplagt, jedoch letztlich für die Textilkunst. In der Weberei schuf sie Teppiche, die wie Bilder aussahen und sie übte sich bereits als Studentin als Lehrerin für die anderen.
1925 übernahm sie als erste weibliche Jungmeisterin die Leitung der Weberei-Klasse. Als Meister wurden am Bauhaus die Lehrenden bezeichnet, die Walter Gropius an seine Akademie holte, darunter namhafte Künstler. Herausragende Absolvent*innen konnten zu Jungmeistern berufen werden. Die Weberei avancierte unter Stölzl zu einer der finanziell erfolgreichsten Klassen des Bauhauses. Dieses Foto um 1926 auf dem Dach des Bauhauses in Dessau zeigt Stölzl, zweite von rechts, mit anderen Bauhausmeistern – allesamt Männer:
Fast alle kennen die Namen Gropius, Klee und Kandinsky – aber Gunta Stölzl?
Die Geschichte des Bauhauses ist in der öffentlichen Wahrnehmung eine Geschichte von Männern. Walter Gropius, Paul Klee, Wassily Kandinsky – diese Namen sind einem breiten Publikum weltweit bekannt. Aber was ist mit Gunta Stölzl oder den Bauhaus-Künstlerinnen Benita Koch-Otte und Marianne Brandt? Dabei fiel die Gründung des Bauhauses in eine Zeit des Aufbruchs für Frauen. Kurz zuvor hatte Marie Juchacz als erste Frau in einem deutschen Parlament gesprochen, die erste Wahl zur Nationalversammlung wurde abgehalten, bei der Frauen ihre Stimme abgeben und sich zur Wahl aufstellen lassen konnten.
Und auch Walter Gropius war zunächst angetan. Seine Vision, Kunst wieder zum Handwerk zurückzuführen, galt als avantgardistisch. Für ihn gab es keinen Wesensunterschied zwischen Künstler*innen und Handwerker*innen: „Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers.“ Das Bauhaus sollte für Moderne stehen, in jeder Hinsicht seiner Zeit voraus sein. Eine emanzipatorische Haltung war für Gropius ein wichtiger Teil des progressiven Bauhaus-Images. Als allerdings schon im ersten Semester mehr als die Hälfte der Studierenden Frauen waren, beschränkte er im Folgenden ihren Anteil auf ein Drittel.
„Wo Wolle ist, ist auch ein Weib“
Gropius unterstützte auch die Einrichtung der sogenannten Frauenklasse, deren Gründung von Gunta Stölzl und anderen Studentinnen vorangetrieben wurde – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Motiven. So erhoffte sich Stölzl für die Frauen einen kreativen Raum, frei vom enormen männlichen Konkurrenzdruck an der Kunsthochschule. Gropius gefiel die Vorstellung einer Frauenklasse, da die meisten Bauhaus-Studentinnen aus seiner Sicht ohnehin auf eine Hausfrauenehe hin studieren würden und er die wenigen Plätze in den Werkstätten nur noch mit den Befähigsten besetzen wollte – damit meinte er selbstverständlich die männlichen Studenten.
Bauhaus women: weavers Benita Otte and Gunta Stölzl; designers Marianne Brandt and Alma Siedhoff-Buscher pic.twitter.com/3tJLn8eRzZ
— Lou Filarski (@LouFilarski) 4. Februar 2014
Die Frauenklasse ging in der Weberei auf. Andere Werkstätten wie die Tischlerei, Fotografie oder Architektur blieben den Frauen weitestgehend verwehrt. Nur wenige setzten sich durch, wie Marianne Brandt, die in der Metallwerkstatt studierte. Oder Lotte Stam-Beese, die zwar für Weben eingeschrieben war, aber trotzdem Architektur- und Fotografie-Kurse belegte und nach dem Zweiten Weltkrieg am Wiederaufbau der niederländischen Stadt Rotterdam beteiligt war. Doch die meisten Studentinnen wurden in die Weberei gedrängt, ein ungeschriebenes Gesetz. „Wo Wolle ist, ist auch ein Weib, das webt, und sei es nur zum Zeitvertreib“, soll der Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer abfällig über die Bauhaus-Studentinnen gesagt haben. Er war nicht der Einzige: So behauptete der Bauhausmeister und Begründer der Farbtypenlehre Johannes Itten, dass Frauen nur zweidimensional denken können, Männern hingegen dreidimensional. Und Paul Klee war sich sicher: Genie ist männlich.
Stölzl brachte ihre Tochter mit in die Werkstatt – ein Tabu
Die Weberei, die sie zuvor mit Benita Koch-Otte aufgebaut hatte, leitete Gunta Stölzl ab 1925 mit solidarischem Teamwork statt Hierarchien. Für das Bauhaus, das im selben Jahr von Weimar nach Dessau umzog, ein Novum: Erstmals besetzte eine Frau eine leitende Position. Im Oktober 1929 kam Stölzls erste Tochter Yael zur Welt. Auch hier wehrte sich die junge Frau gegen die Konventionen ihrer Zeit und brachte ihre Tochter fortan mit zur Arbeit. Sie zog auch nicht zu ihrem Ehemann und Vater ihrer Tochter, dem jüdischen Architekten Arieh Sharon, nach Berlin, sondern hielt an ihrem Job in Dessau fest. Für die Ehe mit einem jüdischen Mann wurde Stölzl in Zeiten des Aufstiegs der Nationalsozialist*innen stark angefeindet. 1931 kündigte sie ihre Stelle am Bauhaus und ging in die Schweiz, wo sie eine eigene Weberei aufbaute.
Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Müller hat in ihrem Buch Bauhaus-Frauen. Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Design die mangelnde Anerkennung für diese Künstlerinnen aufgearbeitet. Ein Schicksal wie es die Bauhaus-Fotografin Lucia Moholy ereilte, die nach der Machtübernahme der Nazis Deutschland überstürzt verließ, war demnach kein Einzelfall. So übergab Moholy vor ihrer Flucht dem Ehepaar Gropius hunderte ihrer Negative. Nach Kriegsende erhielt sie erst nach jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen einen Bruchteil davon zurück. Die übrigen Negative hatte man, so stellte sich heraus, unter männlichen Bauhausmeistern für ihre Bewerbungen im Exil aufgeteilt.
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