Warum hängen wir ständig am Handy? Weil wir uns selbst nicht mehr aushalten, sagt Zeitforscher Marc Wittmann und erklärt, wie das Smartphone unser Zeitgefühl verändert.
Fünf Menschen steigen in den Bus, setzen sich, holen wie einstudiert ihre Smartphones raus und starren auf die Displays, bis sie wieder aussteigen. Solche Situationen beobachte er täglich, sagt Marc Wittmann. Er ist Psychologe und Humanbiologe und erforscht am Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie, wie wir die Zeit wahrnehmen. Was unser Smartphone damit zu tun hat, erzählt er im Interview.
ZEIT Campus ONLINE: Herr Wittmann, sobald wir kurz auf den Bus warten müssen, holen wir unser Smartphone raus. Wir müssen uns also gar nicht mehr langweilen. Was macht das mit uns?
Marc Wittmann: Wir erleben uns selbst nicht mehr. Das klingt komisch, heißt aber, dass wir gar nicht mehr wissen, wie es uns geht. Wenn ich gehetzt in die Arbeit komme und abends wieder nach Hause gehe und mir nicht einmal diese 15 Minuten oder halbe Stunde auf dem Nachhauseweg nehme, um über mich selbst nachzudenken und mich zu fragen: “Wie geht es mir eigentlich? Was will ich eigentlich? Was mache ich heute Abend?”, dann verliere ich irgendwann den Kontakt zu mir selbst. Der Bus kommt in drei Minuten, wir stehen nur fünf Minuten in der Schlange im Café, aber schon diese fünf Minuten sind zu viel – wir holen unser Handy raus.
ZEIT Campus ONLINE: Warum machen wir das?
Wittmann: Weil wir uns nicht langweilen wollen. Es ist aber interessant, was Langeweile in diesem Zusammenhang bedeutet: Mir ist es mit mir selbst langweilig. Das hat mit Zeitwahrnehmung zu tun. Denn sobald ich nichts zu tun habe, bemerke ich mich plötzlich selbst. Dadurch kommt mir die Zeit länger vor. Was man dann natürlich als Erstes machen will, ist, sich abzulenken. Und da ist das Smartphone natürlich dankbar: Ständig habe ich die ganze Welt verfügbar.
ZEIT Campus ONLINE: Oder wollen wir einfach nicht unbeschäftigt wirken?
Wittmann: Ich glaube, das ist ein anderes Argument. Man muss beschäftigt sein oder zumindest so wirken, um im Arbeits- oder Freundeskontext nicht als Nichtsnutz zu gelten, weil man zu viel Zeit hat. Im Bus ist das aber, glaube ich, nicht der Fall, die anderen Leute kennen mich ja nicht. Da geht es einfach ums Zeitvermeiden.
ZEIT Campus ONLINE: Ist das denn so schlimm?
Wittmann: Nein. Es ist ja auch normal. Man will eben wissen, wie jetzt eigentlich die Brexit-Abstimmung ausgegangen ist und schaut schnell nach. Und es war ja auch früher so, dass man sich beschäftigt hat. Bestimmt kennen Sie diese Schwarz-Weiß-Fotos aus der U-Bahn in New York: Lauter Männer mit Hut und vor sich eine riesengroße aufgeschlagene Zeitung. Die hatten also auch keinen Kontakt zu den Leuten um sich herum und waren abgelenkt durch die Zeitung. Heute ist das aber verstärkt durch das Handy. Es macht alle paar Minuten “Pling!” und macht auf sich aufmerksam und versorgt uns ständig mit neuen Informationen. Das ist nicht grundsätzlich schlimm, aber wenn wir komplett verlernen, es mit uns selbst auszuhalten, verlernen wir eben auch, die Zeit wahrzunehmen, und verlieren dadurch auch Lebenszeit.
ZEIT Campus ONLINE: Haben Sie dafür ein Beispiel?
Wittmann: Sie kennen das bestimmt: Sie sitzen zu Hause am Computer und merken: Der Bus fährt erst in 20 Minuten. Dann klickt man eben noch ein bisschen irgendwo im Internet rum. Und plötzlich merkt man: Mist, der Bus ist schon gefahren. Die Frage ist, ob in diesen 20, 30 Minuten viel Information hängen bleibt.
ZEIT Campus ONLINE: Und?
Wittmann: Zumindest keine Information, die für mein episodisches Gedächtnis wichtig ist. Das episodische Gedächtnis speichert, was ich in meinem Leben erlebe und was ich fühle. Das ist wie ein innerer Film, der später präsent ist. Das habe ich aber beim Aufs-Smartphone-Schauen oder Am-Computer-Sein nicht, dadurch vergeht die Zeit ganz schnell.
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