Stell dir vor, jemand sagt: Wenn du dich von mir trennst, wirst du die Katze nie wiedersehen. Du bleibst deshalb mit der Person zusammen – und wenig später setzt der*die andere eisenhart die Katze aus. So ungefähr müssen sich die Schott*innen nach dem Brexit-Referendum im Sommer 2016 gefühlt haben. Reingelegt. Verraten. Ratlos.
Zwei Jahre zuvor beim historischen Unabhängigkeitsreferendum hatte eine eher schmale Mehrheit von 55,3 Prozent der Schott*innen für den Verbleib im Vereinigten Königreich gestimmt. Vor allem, um weiterhin Teil der Europäischen Union sein zu können: Bei der Brexit-Abstimmung später stimmten 62 Prozent der Menschen in Schottland dafür, in der EU zu bleiben. Der Rest Großbritanniens allerdings nicht.
Es folgte ein böses Erwachen für viele Schott*innen. Das höre ich hier in Glasgow immer wieder. „Am Morgen nach der Auszählung konnte ich es nicht fassen“, sagt zum Beispiel mein Kommilitone Grant und schüttelt auch Jahre später noch ungläubig den Kopf. Dieses Gefühl hat sich in Schottland seither nicht mehr ganz gelegt; immer wieder genährt durch das planlose, peinliche Hickhack der britischen Regierung in Westminster.
Kein Deal oder Scheiß-Deal
Nach langen, zähen Verhandlungen mit der EU ist der von Premierministerin Theresa May ausgehandelte Ausstiegsdeal kolossal im Parlament gescheitert. Auch ihr sogenannter Plan B wird keinen Durchbruch bringen.
Im Grunde läuft die ganze Sache auf zwei Möglichkeiten hinaus: die Vollkatastrophe No-Deal-Brexit mit Medikamenten-Engpässen, tagelangen Staus und wieder aufflammendem IRA-Terror – oder eine Art schlechterer, eingeschränkter EU-Mitgliedschaft. Das sei, so schreibt der irische Kolumnist Fintan O’Toole in einem klugen Text für den Guardian, wie die Wahl, sich „in den Kopf oder in den Fuß zu schießen“.
Das Problem: Niemand weiß genau, was der Brexit überhaupt bezwecken soll. So lange die Verantwortlichen in Westminster nicht klar sagen können, was sie wollen, gibt es keinen Plan B-Z, nur Chaos. Und Schottland hängt mit drin. „Wir sind in dieser Position, weil wir nicht unabhängig sind“, stellt Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, fest. Deshalb will ihre Partei SNP, die Scottish National Party, ein neues Unabhängigkeitsreferendum – #indyref2.
„Ich werde zum Timing eines Referendums in den kommenden Wochen mehr sagen“, so Nicola Sturgeon laut The Scotsman. „Das Chaos und das Fiasko der vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt: Das Schlimmste für Schottland ist es, an Westminster gebunden zu sein, wenn die da so einen Mist machen. Wir wären weitaus besser damit dran, selbst für unsere Angelegenheiten verantwortlich zu sein.“
Verständlich, dass Schottland sich jetzt mehr nach Unabhängigkeit sehnt denn je. Ein bisschen so, wie endlich bei seinen dauerzankenden Eltern ausziehen zu wollen – irgendwann hält man den Wahnsinn eben einfach nicht mehr aus. Und zwar zu Recht. „Ich glaube, das einzig Gute am Brexit ist die Diskussion über mehr politische Freiheit für Schottland“, sagt mein Kommilitone Grant, der aus Glasgow stammt und 2014 für Schottlands Unabhängigkeit gestimmt hat. „Mit weniger Gesetzen, die unserem Land ohne unsere Beteiligung aufgedrückt werden.“
Da stimme ich ihm zu, und zwar aus folgenden Gründen:
Einwanderung
Weniger Einwanderung war ein Argument der Brexit-Befürworter*innen; England will dichtere Grenzen. Schottland hingegen hat seit Ewigkeiten mit einer schwindenden beziehungsweise gering wachsenden und immer älter werdenden Bevölkerung zu kämpfen. Anders gesagt: Schottland ist dringend auf Einwanderung angewiesen.
Außerdem, das kann ich zumindest aus eigener Erfahrung sagen, sind die Schott*innen offener und herzlicher als die Engländer*innen, die mir bisher begegnet sind. Oder wie mein ehemaliger Mitbewohner Paul meint: „Man sollte nicht unterschätzen, wie stark wir uns in dieser Hinsicht kulturell voneinander unterscheiden.“ Als Boy George nach dem Scheitern des Deals twitterte, dass er nach Schottland ziehen will, waren die Reaktionen darauf großartig.
Wirtschaft
Nach dem Tod von Elizabeth I. war der schottische König James VI der nächste in der Erbfolge. Er kam 1603 auf den schottischen und englischen Thron, die so genannte Union of Crowns. 1707 folgte dann die Union of Parliaments – das schottische Parlament wurde aufgelöst und erst wieder 1999 reaktiviert. Seitdem verwaltet sich Schottland teilweise selbst, muss aber seine Einnahmen nach Westminster abführen und bekommt von dort ein Budget zugeteilt.
Genau das nervt viele Schott*innen, darunter auch Grant: „Ich persönlich finde es lächerlich, dass viele Entscheidungen, die unser Land angehen, von Leuten getroffen werden, die in ihrer gesamten Karriere keinen Fuß auf unseren Boden setzen.“ Diese Fernsteuerung empfindet auch mein Ex-Mitbewohner Paul als Beschränkung: „Wir sind eine kleine Nation mit großen natürlichen Ressourcen, die wir für eine fortschrittliche, grüne Wirtschaft einsetzen könnten.“ Wenn, ja, wenn Westminster nicht wäre.
Im Mai vergangenen Jahres veröffentlichte die SNP einen Bericht, der sich mit der wirtschaftlichen Seite eines unabhängigen Schottlands befasst. Demnach würde es umgerechnet etwa 500 Millionen Euro kosten, einen unabhängigen Staat ins Leben zu rufen. Welche Währung ein unabhängiges Schottland haben würde – ob Pfund oder Euro – ist unklar.
Europa
Reisefreiheit, EU-Studierende und Forscher*innen, Zuschüsse und Programme, Handels- und Wirtschaftsbeziehungen … Schottland braucht Europa nicht nur für Zuwanderung. Außerdem ist Europa im weitesten Sinne Teil der Identität; viele Schott*innen, mit denen ich gesprochen habe, fühlen sich in erster Linie schottisch, dann europäisch und dann erst ein bisschen britisch. Englisch aber nicht. „Es ist ziemlich klar, dass wir ideologisch zwei sehr unterschiedliche Länder sind – mit komplett gegensätzlichen Vorstellungen von vielen Dingen“, meint auch Grant.
Vor allem die gefühlte Überheblichkeit der Engländer*innen stößt Schott*innen vor den Kopf, wie Paul sagt: „England macht oft ziemlich deutlich, dass es sich für überlegen hält und die Schotten ‚ihren Platz kennen sollten‘. Naja, unser Platz ist eine kleine, friedliche, freundliche unabhängige Nation.“
Sehnsucht
Der Wunsch nach Unabhängigkeit ist fast so alt wie Schottland selbst, die Differenzen mit England reichen weit in die Vergangenheit zurück – wie alle, die Braveheart, Outlaw King, Maria Stuart oder Outlander gesehen haben, ahnen dürften. Außerdem wird in dieser subjektiv zunehmend irren, hasserfüllten und komplizierten Welt die Sehnsucht nach einem Ort, an dem Werte wie Menschlichkeit und gesunder Menschenverstand wichtig sind, immer größer. Schottland bedient dieses Bild, zum Beispiel mit Kampagnen wie dieser:
Dabei beschränkt sich diese Sehnsucht nicht nur auf Schott*innen. Es gibt da zum Beispiel einen Twitter-Account Germans for ScotRef, und am 16. März 2019 findet in Berlin sogar ein Marsch für die Unabhängigkeit Schottlands statt.
Ob diese Vorstellung der Realität entspricht – Schottland hat durchaus Probleme mit Armut, Drogen, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, strukturschwachen Gebieten und so weiter – ist dabei nicht so entscheidend. Allein die Idee eines solchen Ortes zieht Menschen an, die vielleicht entsprechende Dinge umsetzen wollen und können. Und so dieses Bild eventuell ein Stück weit wirklich werden lassen.
Nicht ohne Erlaubnis
Allerdings kann Schottland nicht einfach so ein Referendum durchführen, dafür ist die Erlaubnis der britischen Regierung nötig. Ohne wäre das Ergebnis nicht rechtlich bindend. Ein Antrag dafür liegt Westminster schon seit Oktober 2016 vor; eine Antwort gibt es bisher nicht.
Und damit Schottland als eigene Nation überhaupt EU-Mitglied werden könnte, müssten die anderen Mitglieder dafür stimmen. Mit ziemlicher Sicherheit allerdings wäre Spanien wenig begeistert. Wenn Schottland Unabhängigkeit plus EU-Mitgliedschaft bekommt, wieso dann nicht auch Katalonien? Tja.
Ein freies Schottland
Es gibt in Schottland natürlich auch Stimmen, die nicht für Unabhängigkeit sind. Man könnte sich nicht einfach so vom ältesten und wichtigsten „Feind, Freund und Handelspartner England“ trennen, wie mir ein Unternehmer aus Edinburgh sagte. Die schottischen Ölfelder wären möglicherweise gar nicht so ergiebig wie gedacht; viele Brit*innen würden dann Schottland verlassen und die Bevölkerung weiter schrumpfen, höre ich. Und ein Taxifahrer sagte mir: „Wir würden die Fremdbestimmung aus Westminster ja nur durch Kontrolle aus Brüssel ersetzen.“ Ach ja, und was wäre eigentlich mit der Queen?
Also, ich finde ja, Elizabeth I., Queen of Scots – das klingt gar nicht schlecht. Sicher, die Gründung einer unabhängigen schottischen Nation wäre kein Kätzchenstreicheln, mit enormer Kraftanstrengung und ungewissem Ausgang verbunden. Aber erstens kommt mit dem Brexit ohnehin ziemlich genau das oder Schlimmeres auf die Insel zu.
Und zweitens birgt die schottische Unabhängigkeit neben allen Risiken auch die einmalige Möglichkeit und historische Chance, endlich zu beweisen, dass Schottland viel mehr ist als nur Männer in Röcken, Kekse in karierten Dosen und der kalte, karge, abgehängte Nordzipfel einer Insel, die nicht mehr weiß, was sie will.
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