Mitten hinein,
ins Gewimmel der von Flüchtlingen maßlos überfüllten Stadt Beirut, zieht der zwölfjährige Zain die Kamera und den Zuschauer. Mitten hinein in dieses Durcheinander, was auch gleich die Übersetzung
des Titels Capernaum ist. Konsequent wird es
aus der Perspektive der vernachlässigten und gefährdeten Kinder gezeigt, mit
einer Kamera, die nah am Boden, auf Höhe der Kinder bleibt. Die bahnen sich flink
ihren Weg, wenn sie mal wieder wegrennen müssen, weil sie sich etwas
Essbares geschnappt haben, oder am
Randstein zwischen Müllbergen hockend ein paar Minuten Luft holen, bevor sie
sich wieder ins Getümmel werfen.
Ein bisschen erinnert das an Slumdog Millionär von Danny Boyle, der
die Armut auf den Straßen von Mumbai in ähnlicher Weise eingefangen hat, mit
einer ungeheuren Energie und einer Zärtlichkeit des Blicks, die das Elend niemals
verharmloste. Auch die libanesische Filmemacherin Nadine Labaki gibt den
Kindern, die kein echtes Zuhause kennen, in ihrem dritten
Spielfilm ein Heim auf Zeit. Doch im Unterschied zu ihrem britischen Kollegen
ist sie keine Außenseiterin in einem fremden Land, sie kennt die Not aus ihrem
Alltag. Mit dieser Mischung aus hartem,
dokumentarischem Realismus und, ja, Feel Good Movie hat der Film, der vom Libanon bei der Academy
of Motion Picture Arts eingereicht wurde, Chancen auf den Oscar als Bester fremdsprachiger Film.
In der Rahmenhandlung steht Zain vor Gericht: Er verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben, obwohl sie sich nicht um ihn kümmern können. Dazu schildert er dem Richter, was er in seinem jungen Leben alles erleben musste: Er konnte nie zur Schule gehen, bekommt selten genug zu essen. Als die Eltern die geliebte Schwester verkaufen, läuft er von zu Hause weg und findet in den Slums von Beirut bei einer jungen Mutter aus Äthiopien Unterschlupf. Die lebt jedoch illegal im Land, und bald schon muss sich Zain mittellos mit deren Baby allein durchschlagen. Zains Anklage ist eine Klage gegen eine ganze Gesellschaft, die solche Geschichten zulässt.
Liebeswirren im Schönheitssalon
Im
Vergleich zu Capernaum war der erste, 2007 gedrehte Film der Schauspielerin,
Drehbuchautorin und Regisseurin Nadine Labaki geradezu verspielt. Ganz weich, fließend
und sinnlich klinkte sie sich für Caramel
in den Arbeitsalltag und die Liebeswirren einer Reihe von Frauen in einem
Beiruter Friseur- und Schönheitssalon ein. Schon da war die
empathische Kraft ihres Blicks und das sehr filmische Gespür für Rhythmus und
Timing zu spüren. Auch Caramel war von der Wachsamkeit für die alltäglichen Kämpfe
des Lebens geprägt, aber eben noch auf sehr luftig verspielte und komödiantische
Weise.
Seitdem sind ihre Filme immer politischer und brisanter geworden: “Das
hat vor allem mit der Erfahrung und Reife als Filmemacherin zu tun”, sagt Labaki im Gespräch in einem Berliner Hotelzimmer. “Mit den Jahren habe ich begriffen,
welche Kraft und welchen Einfluss das Kino auf das Leben anderer Menschen und
ihre Wahrnehmung hat. Es wurde für mich zur Verpflichtung, das zu nutzen, um
Einfluss auf die Welt zu nehmen, in der ich lebe.”
Klingt ganz einfach und logisch, aber wie schwer ist es
eigentlich für eine Frau, in der arabischen Welt Filme zu machen?
“Seltsamerweise gar nicht”, sagt Labaki mit einem entwaffnend herzlichen
Lachen. “Ich habe niemals
das Gefühl gehabt, dass ich es als Frau besonders schwer in meinem Beruf hatte.
Es ist schwer, im Libanon Filme zu machen. Punkt.” Im Libanon gibt es keine Filmindustrie, keine
Struktur, die dabei helfen kann, Filme zu konzipieren und zu drehen. “Tatsächlich gibt es bei uns
sogar mehr Frauen als Männer im Filmgeschäft! Ich weiß nicht warum, denn
gleichzeitig gibt es viele Frauen, die überhaupt keine Möglichkeit haben, sich
zu äußern, die nicht mal das Haus verlassen dürfen. Es ist ein Land voller
Widersprüche, in dem viel davon abhängt, aus welchem Teil des Landes man
stammt, in welchem sozialen Umfeld man aufgewachsen ist, ob man christlich oder
muslimisch erzogen wurde. Es ist ein Land, das auf enormen Gegensätzen
aufgebaut ist.”
Labaki wurde 1974 in Beirut geboren, mitten hinein in
den Bürgerkrieg, der ihre Kindheit und Jugend prägte und auch ihre Sensibilität
als Filmemacherin. Während des Krieges konnten die Kinder nicht im Freien spielen
und nicht zur Schule gehen, mussten viel Zeit in Schutzräumen verbringen, in
denen Sandsäcke den Weg zum Licht versperrten. Mit den Filmen, die sie aus dem
Videoverleih unter der elterlichen Wohnung holte, lernte sie die Kraft des
Kinos kennen: “Durch Filme konnten wir
atmen, träumen und sehen, was in der Außenwelt passiert. Ich begriff, dass man
der eigenen Wirklichkeit entfliehen und das Leben eines anderen Menschen leben
kann.”
Schon damals wusste sie, dass sie zu dieser Welt gehören wollte, dass
sie Filme machen, Geschichten erfinden und mit anderen Menschen mitfühlen
wollte. Da ihr Vater seinen eigenen Wunsch, Filme zu machen, einst aus finanziellen
Gründen nicht verwirklichen konnte, unterstützte er den Traum seiner Töchter. Auch
Nadine Labakis jüngere Schwester Caroline Labaki arbeitet im Filmgeschäft, als
Schauspielerin und Kostümbildnerin.
Mit langen, schwarzen Haaren, riesigen braunen Augen und
einem sinnlichen Mund hat Nadine Labaki
die Erscheinung eines Filmstars. Kein Wunder, dass sie mit
ihrer natürlichen Präsenz nicht nur in ihren eigenen Filmen als
Hauptdarstellerin agierte, sondern auch bei
anderen Regisseuren auftrat, unter anderem in Rock the Kasbah und Ein Lied
für Nour. Doch das Gesicht für andere hinzuhalten war ihr nicht genug,
dafür hat sie selbst zu viel zu sagen.
War die warmherzige Emanzipationskomödie
Caramel noch eine sympathische
Fingerübung, hatte Nadine Labakis zweiter Film schon einen deutlich politischeren
Ansatz, mit einem sehr weiblichen Blick auf die kriegerischen
Auseinandersetzungen ihres Landes. Wer
weiß wohin? spielt in einem kleinen ländlichen Dorf, in dem Christen und
Muslime friedlich zusammenleben, jedenfalls bis mit dem Fernsehempfang auch die
Kriege der Außenwelt Einzug halten. Die Frauen und Mütter,
die keine Lust mehr haben, ihre Männer und Söhne zu beerdigen, verteidigen den
Frieden listig, unter anderem mit einer Gruppe ukrainischer
Stripperinnen und mit haschischversetztem Kuchen. Labaki nimmt die Absurdität der
Kriege aufs Korn, die Freunde und Familien von einem Moment zum nächsten zu
erbitterten Feinden machen, und mischt sie zwischen Märchen und Musical tragikomisch
auf. Waren die Männer da noch recht klischeehaft schlicht geraten, erweist sich Labaki in ihrem neuen Film Capernaum
als virtuose Erzählerin.
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