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Großbritannien: Die Macht des achten Zwergs

Anmaßung, Arroganz, Eigensinn, Selbstdarstellung. Die Liste der Vergehen, die John Bercow vorgeworfen werden, ist lang. Kurz vor der finalen Brexit-Abstimmung kommt noch ein weiteres hinzu für den Mann, den politische Gegner wegen seiner Körpergröße als achten Zwerg verspotten: Ein hochgewachsener Abgeordneter aus Theresa Mays Konservativer Partei, der im Golfkrieg für Großbritannien gekämpft hat, erhebt sich von seinem Sitz im britischen Unterhaus. “In den vergangenen Monaten haben wir alle einen Sticker auf Ihrem Auto bemerkt”, brüllt Adam Holloway vorwurfsvoll. Es handele sich um einen Anti-Brexit-Sticker, und das sei eine ernste Sache, ergänzt der ehemalige Soldat, während er mit dem Zeigefinger dreimal wuchtig auf John Bercow zeigt.

Großbritannien: John Bercow, Sprecher des britischen Unterhauses

John Bercow, Sprecher des britischen Unterhauses
© Alastair Grant/Getty Images

Die Szene aus der Herzkammer der britischen parlamentarischen
Demokratie ist nur wenige Tage alt. Es gibt Tausende solcher rhetorischer Gefechte. Dieses blieb auch außerhalb des ehrwürdigen Parlaments nicht unbemerkt, es wurde bereits mehrfach im Internet hochgeladen und allein auf YouTube 100.000-fach abgespielt. Wenn ein Land ins politische Chaos driftet, sind auch Autoaufkleber nicht mehr unschuldig, erst recht nicht, wenn sie mit einem Abgeordneten des House of Commons in Verbindung gebracht werden.

Order“, zu Deutsch “Ordnung”, antwortet der Beschuldigte. John Bercow ist jetzt in einer schwierigen Situation. Als Sprecher des House of Commons stellt er die höchste Autorität im Unterhaus dar. Er führt die Debatten in einem der ältesten Parlamente der Welt und soll dabei überparteilich sein. Bercow weiß, dass auf der Stoßstange des Rovers, den er fährt, tatsächlich ein Aufkleber mit den Worten “Don’t blame me. I voted Remain” prangt. Aber er hat einen rhetorischen Gegenschlag parat: “Entschuldigen Sie, Gentleman, bei allem Respekt …”, aber da sei dem verehrten Mitglied dieses Hauses ein Faktenfehler unterlaufen. Der Sticker klebe auf dem Auto seiner Frau: “Yes!” – und der Gentleman würde doch nicht etwa eine Sekunde lang behaupten wollen, eine Ehefrau sei der Besitz eines Ehemannes. Schallendes Gelächter. Angriff abgewehrt, Angreifer gedemütigt.

Fast alle wetten auf eine Niederlage

Das Unterhaus des britischen Parlaments erlebt dieser Tage eine Renaissance. Selten war es so bedeutend. Mit einer einzigen Entscheidung kann es das Schicksal Großbritanniens und die Zukunft der Europäischen Union bestimmen. Mehr als zwei Jahre harter politischer Arbeit stehen zur Abstimmung: Mays sogenannter Chequers-Deal, der ihrer Meinung nach bestmögliche Austrittsplan, hängt nun einzig vom Urteil des Hauses mit den Sitzreihen aus grünem Leder ab.

Tatsächlich geht es in der Parlamentsabstimmung an diesem Dienstag um alles. Die Premierministerin selbst warnte vor einem Auseinanderbrechen des Landes, wenn ihr Plan nicht gebilligt werde. Allen Prognosen zufolge wird aber genau das passieren. 98,3 Prozent der Britinnen und Briten, die bis zum Montag auf den Ausgang der Abstimmung gewettet haben, rechnen mit einer Niederlage Mays. Aber niemand weiß, was danach über Großbritannien hereinbricht: ein erneutes Misstrauensvotum? Der nächste Regierungssturz? Neuwahlen? Doch noch ein zweites Referendum? Oder wirklich ein ungeregelter Austritt aus der EU am 29. März dieses Jahres?

Auf beiden Seiten der Straße wird geschrien

Antworten werden die kommenden Tage bringen. In seiner 800-jährigen Geschichte der Aufklärung und Volksermächtigung hat das Parlament aber in jedem Fall eine neue Relevanz erreicht. Eigentlich geht es dabei um den Brexit, also wie Großbritannien die EU verlassen soll. Es geht aber auch um eine der entscheidenden Fragen der parlamentarischen Demokratie. Darf ein Parlament, in dem schließlich die gewählten Vertreterinnen und Vertreter des Volkes sitzen, den Willen dieses Volkes korrigieren? Das würde ja bedeuten, dass die Berufspolitiker, die Entscheidungen im Sinne der Bürger treffen sollen, es besser wissen als das Volk selbst. Oder müssen sie sich an den einmal geäußerten Volkswillen halten – also raus aus der EU? An dieser Frage verzweifelt die britische Regierung seit Monaten.

Und das Volk weiß es womöglich auch nicht besser. Chaos ist gemeinhin definiert als die Abwesenheit oder die Auflösung aller Ordnung: ein völliges Durcheinander, Menschen schreien sich an, reden durcheinander und verlieren die Orientierung. Direkt vor dem Eisenzaun, der das Parlament im Westminster Palace vom Rest des Landes abgrenzt, kann man dieses Chaos erleben. Da steht auf der einen Seite des Parliament Square das Pro-EU-Lager und schwenkt blaue Fahnen mit den zwölf Sternen. “Stoooop Brexit“, brüllt einer von ihnen mit tiefer Stimme. Und sofort schallt die Antwort von der anderen Straßenseite, von den Vertreterinnen und Vertretern des anderen Lagers, zurück: “We voted Leave. And Leave means Leave!” Über diesem Schauspiel thront die übergroße dunkle Statue von Winston Churchill wie ein Mahnmal aus einer Zeit, in der das Land nicht so gespalten war.

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