Sie ist bis heute das vielleicht größte
Idol der Linken, geradezu die ideale Identifikationsfigur für radikale
Entschiedenheit: Rosa Luxemburg. Sie stand immer auf der richtigen Seite, etwa
wenn wankelmütig gewordene Sozialdemokraten ihre faulen Kompromisse mit dem
herrschenden System machten. Sie saß für ihre Überzeugungen jahrelang im
Gefängnis. Sie wich keinem Konflikt aus und war dennoch keine
Menschenschinderin mit Erschießungspelotons wie Lenin oder gar Stalin.
Im
Gegenteil, ihre Prosa ist voller Zärtlichkeit: “Die Welt muss umgestürzt
werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden
konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus
roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen”, schrieb sie.
Am Ende wurde sie auch noch zur Märtyrerin, Opfer eines Meuchelmordes einer
rechtsradikalen Soldateska.
Viel mehr an Zutaten zum Idol geht
eigentlich kaum. Eine mystische Gestalt.
Gehört sie auf den Sockel?
Exakt 100 Jahre ist das jetzt her, dass
Rosa Luxemburg von Freikorpssoldaten in einer geheimen Wohnung aufgestöbert
wurde, nachdem im chaotischen Januar 1919 die Aufstandsversuche in Berlin
niedergeschlagen worden waren. Nach kurzem Verhör und Misshandlung im damaligen
Hotel Eden an der Budapester Straße wurde sie in einen Gefangenenwagen
geschafft, dort mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen und einfach erschossen.
Ihre Leiche wurde in den Landwehrkanal geworfen, wo sie erst Monate später wieder
auftauchte.
Eine Frau, die so endet und die mit ihrer
Kritik so oft so recht hatte – die steht auf einem Sockel, und alles ist
glasklar. Aber ist es das denn wirklich? Luxemburgs Gegner (und das waren im
Laufe der Zeit so ziemlich alle) hatten sehr oft unrecht. Aber das heißt ja
noch nicht unbedingt, dass Rosa Luxemburg immer recht hatte.
Eine Art Wunder war sie von Anfang an. 1871 als
Tochter in eine jüdische Kaufmannsfamilie in einem polnischen Provinzkaff geboren, studiert sie, macht sich als Nationalökonomin einen Namen, wirft sich
in die sozialistische Theoriedebatte. All das zu einer Zeit, in der man jungen
Mädchen und Frauen noch beibrachte, in der zweiten Reihe zu stehen,
allenfalls. Sich nicht groß hervorzutun, sondern die Autorität der Männer zu
achten, zumal dann, wenn die doppelt so alt wie sie sind und außerdem Legenden.
Nichts von all dem tat Rosa Luxemburg.
So bewundernswert das ist und so brillant
sie argumentierte, so ist auch ihr Weg mit Irrtümern gepflastert. Generationen von radikalen Linken haben es
in den letzten Jahrzehnten zuwege gebracht, Luxemburgs Gegner in den
vielen Kontroversen, die sie führte, als Kompromissler und Anpassler
hinzustellen, und Rosa Luxemburg sowohl als hellsichtige Kritikerin wie auch
als die eigentliche Fackelträgerin des Erbes von Revolutionsheroen wie Karl Marx
und Friedrich Engels. So etwa im berühmten Revisionismusstreit, der
ab Ende des 19. Jahrhunderts tobte.
Ausgelöst hatte ihn Eduard Bernstein, einer
der Veteranen der Bewegung, ein Mitstreiter von Marx und engster Mitarbeiter des
alten Friedrich Engels. Dieser selbst hatte in seinen letzten Lebensjahren die
Gemäßigten in der Sozialdemokratie gefördert und ihnen immer wieder gratuliert,
wenn sie die Heißsporne in der Bewegung ausgetrickst hatten. Bernstein
schließlich hatte diese Wendung vom Revolutionspathos zum Reformismus dann
theoretisiert, vor allem anhand von ökonomischen Fakten und soziologischen
Untersuchungen.
Dass der Kapitalismus die Gesellschaft in
eine Zuspitzung von Klassengegensätzen zerreiße, unermesslichen Reichtum auf
der einen Seite und immer mehr Elend auf der anderen Seite konzentriere, hatte
sich als falsch erwiesen. Auch dass der Kapitalismus seinem Zusammenbruch
notwendigerweise entgegengehe, erschien plötzlich nicht mehr so fix. Auch
Arbeiter konnten ihren Wohlstand steigern, manche sogar in die Mittelschicht aufsteigen,
nicht zuletzt dank des Erfolgs von Sozialdemokraten und Gewerkschaften selbst.
Marx‘ Prognose immer ärgerer Verelendung wurde zunehmend fragwürdig. Bernstein
hatte das aus der Steuerstatistik und anderen Daten herausgelesen.
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