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Brexit: Die Hunde bellen wieder

Wer Nordirland verstehen will, so wird gesagt, muss Shankill & Falls
besuchen. Shankill & Falls? Das klingt wie der Name eines Komikerpaars oder einer
Anwaltskanzlei. Tatsächlich aber ist es das absurdeste Straßenpaar in Europa: Beide, die
Shankill Road und die Falls Road, führen vom Zentrum Belfasts aus nach Westen. An ihrem
Ursprung, auf Höhe der Stadtautobahn, liegen sie kaum 400 Meter auseinander. Würde ein
schalkhafter Teufel sie mit seinem Höllenbesen zusammenschieben, es käme auf den unfreiwillig
vereinigten Straßen zu einer fürchterlichen Schlacht. Ihre Bewohner haben sich in ihrer
Geschichte wechselseitig überfallen, und sie schreien sich ihre Verbrechen mit riesigen
Wandbildern entgegen. Die Falls Road ist die Straße der Katholiken, die Shankill Road die
Straße der Protestanten. Beide sind eine Bühne des Rechthabens und des Opferstolzes. Sie
führen sich auf, als lägen sie im Inneren zweier Länder, die einander in Verachtung verfallen
sind. Tatsächlich trennt sie nur eine Mauer, eine sogenannte
peace wall.
Sie ist eine
Travestie der Berliner Mauer: die offenbar von allen genossene Illusion, man lebe in einer
geteilten Stadt.

Katholiken und Protestanten haben sich im armen Westen Belfasts dazu entschlossen, die Verachtung zum Daseinszweck zu erheben. Vergeltungszwang hat sich als umgekehrte Zuversicht in den Straßen festgesetzt.

Dem sogenannten Nordirlandkonflikt, hier auch The Troubles genannt, fielen mehr als 3.500 Menschen zum Opfer. Im Jahr 1998 wurde er durch das sogenannte Karfreitagsabkommen beendet. Zwischen Falls und Shankill Road scheint er, zumindest in den Köpfen, weiterzugehen. Der Zorn hat zur Verarmung der Bevölkerung geführt: Man ist in der Geschichte gefangen, und ehe man sie nicht im eigenen Sinn um- und zu Ende geschrieben hat, kann die Zukunft (oder auch nur die Gegenwart) nicht beginnen.

Was, so die Frage, die sich der Besucher stellt, könnte ein harter Brexit in diesen Vierteln anrichten? Die Menschen, denen man begegnet, geben wenig Anlass zur Zuversicht. Ihre Stadt ist, rund um die
peace wall,
hart wie Narbengewebe.

Überall sieht man Murals, Wandmalereien, welche die Geschehnisse verklären und dramatisieren. Es ist, als habe sich Westbelfast vor langer Zeit in die Vitrine seiner Vergangenheit verwandelt. Man betreibt Totengedenken mit den Mitteln der Propaganda, oder freundlicher gesagt: der Reklame – für ein bestimmtes Geschichtsbild.

Das Wandgemälde für Stevie “Top Gun” McKeag zum Beispiel gilt einem vielfachen Mörder, der im Auftrag der Unionisten, der nordirischen Protestanten, im Viertel unterwegs war und für seine Morde mit Preisen geehrt wurde. Geht man um das Mural herum, sieht man im Wohnzimmer des dranhängenden Reihenhäuschens hinter Gardinen eine Frau gemütlich am Lämpchen sitzen. Eigener Herd und harter Frontverlauf – offenbar sind Geborgenheit und innere Schussbereitschaft hier nicht zu trennen.

Von radikalen Protestanten wird Stevie McKeag wie ein früh verstorbener Popstar verehrt (vermutlich brachte Kokain ihn um), man verneigt sich vor seinem Bild. Hingegen fährt der katholische Guide, der den Gast herumführt, in seinem Taxi dieses Mural an, um zu illustrieren, was für Gesinnungshooligans die anderen sind. Was, fragt man ihn, würde ein harter Brexit für Westbelfast bedeuten? “Krieg. Diese Gegend war ein Schlachtfeld, und sie würde es wieder werden.”

Im protestantischen Gebiet sieht man auch Darstellungen des
Blitz,
der deutschen Bombenangriffe, von denen Belfast 1941 getroffen wurde; etwa 1050 Menschen wurden dabei getötet. Ein Wandgemälde zeigt fassadenhoch die Zerstörung eines Straßenzuges, den Moment nach dem
Blitz.
Deutschland war damals der Aggressor und ist es heute, so sieht man es hier, immer noch – auch wenn es sich zum “Motor der europäischen Einheit” verklärt.

Der Geist Großbritanniens zur Zeit der deutschen Luftangriffe ist unterdessen auch in London beschworen worden. Man denkt daran, Notrationen an Nahrung und Medikamenten anzulegen (für deren Aufbewahrung Tausende von Kühlschränken angeschafft wurden). Manche konservativen englischen Politiker hegen tatsächlich Sehnsucht nach dem Entbehrungsreichtum der Vergangenheit. Und hoffen, das Volk möge durch den Brexit einen neuen
Blitz spirit
entwickeln – also jenen Zusammenhalt, der sich in den Vierzigerjahren unter den deutschen Angriffen gebildet habe. Im protestantischen Teil Belfasts spürt der Reisende etwas von diesem Zusammenhalt im Schock – aber es ist ein am Himmel erstarrter Blitz.

Die Reise geht nun nach Westen, in eine Stadt, die die Spaltung schon im Namen trägt. Die Katholiken nennen sie Derry, die Protestanten Londonderry. In Belfast hat man den Reisenden vorbereitet: Die Stadt sei durch den Fluss Foyle getrennt in eine katholische Westbank, die Bogside, und eine protestantische Eastbank, die Waterside. Niemals solle man in der Bogside von “Londonderry” und in der Waterside von “Derry” sprechen, das könnte üble Folgen haben.

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