Gute Plädoyers gehen auch mal um die Ecke. Ich möchte mit der Ecke Breiter
Weg/Ernst-Reuter-Allee beginnen, in der Innenstadt meines Heimatorts Magdeburg, neben dem
Eingang zu McDonald’s. Oft sitzt dort irgendein Mensch, der einen Hut vor sich liegen hat und
jenen Leuten entgegenschaut, die gleich für 3,59 Euro eine Sechserpackung gepresstes
Hähnchenetwas kaufen werden. Als ich klein war, so klein, dass ich auf Augenhöhe dieser
Sitzenden über die Straßen lief, stand ich einmal an dieser Ecke und fragte meine Mutter,
warum niemand Geld in den Hut wirft und wieso auch wir das nicht tun. Sie antwortete: Man kann
nicht allen Bettlern etwas geben.
Es war derselbe Ton, in dem sie verkündet hatte, dass man keine Regenwürmer isst. Ein
elterliches Dogma. Es prägte meine kindlichen Gehirnwindungen, sodass ich ihm lange gefolgt
bin: wenn ich konzentriert die U-Bahn-Werbung las, um die aufgehaltene Hand vor mir zu
übersehen; wenn ich ins Geschäft stürmte, um den Hut am Boden nicht zu bemerken; wenn ich
einen Schluck nahm, um dem Mann neben meinem Tisch nicht antworten zu müssen.
Man. Kann. Nicht. Allen. Bettlern. Etwas. Geben.
Es hat viele Jahre und Straßenecken gedauert, bis ich mich endlich fragte: Kann man nicht?
Ich stellte mir vor, was mein junges Ich sagen würde, sähe es mich 20 Jahre später auf mein
Handy starren, während ich an dem Mann vorbeigehe, der ein Schild vor sich aufgestellt hat,
auf dem steht: Ich brauche Hilfe.
Seit ein paar Monaten probiere ich jetzt, das Gegenteil zu tun: Ich zwinge mich, mein
Portemonnaie aus dem Rucksack zu kramen, egal, unter wie vielen Bäckertüten es vergraben ist.
Es klappt meistens, nicht immer. In der Woche bevor dieser Artikel entstanden ist, habe ich
mitgezählt. Zweimal hatte ich kein Kleingeld dabei. Einmal war ich zu müde und konnte mich
nicht aufraffen. Aber ansonsten bin ich meinem Vorsatz treu geblieben. Festhalten lässt sich:
Ich lebe noch, esse nicht aus der Tonne; und wieder bei meinen Eltern einziehen musste ich
auch nicht. Ich habe in der Woche neun Leuten insgesamt 3,80 Euro gegeben – und damit gerade
mal auf ein bisschen mehr als eine Sechserpackung McNuggets verzichtet.
Keiner der Fragenden bedankte sich übermäßig. Einmal war ich wegen der ausbleibenden
Begeisterung fast ein wenig entrüstet. Dann fiel mir ein, dass auch ich wegen 50 Cent noch nie
vor Freude im Kreis gesprungen bin.
Ich gestehe: Tatsächlich
allen
etwas zu geben würde mein Gehalt übersteigen. Wie
viele Menschen auf den Straßen Berlins, wo ich wohne, um Geld bitten, lässt sich nicht genau
festmachen. 2016 lebten nach einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
in Deutschland 52.000 Menschen auf der Straße. Allein in Berlin sind es Tausende. Dazu kommen
all die, die zwar ein Dach überm Kopf haben, aber nicht genügend Geld. Ich allein kann daran
wenig ändern.
Aber es ist etwas faul an den meisten dieser Alle-Argumente (Wir können nicht alle
aufnehmen/nicht alle nur Soja essen/nicht alle aufhören, Kinder zu bekommen). Sie blasen etwas
bis ins Absurde auf, um es gleich im Keim zu ersticken.
Vor mir zumindest haben sich noch nie alle Obdachlosen Berlins aufgestellt und die Hand
aufgehalten. An der U-Bahn-Station nahe meiner Wohnung sitzt seit Monaten, vielleicht Jahren,
derselbe Mann. Das Einzige, was sich an ihm verändert, ist die Anzahl der Jacken, die er
trägt, je nach Jahreszeit. Er ist um die 50, dunkler Teint, grauer Bart. Seine Hand hält er
immer gebeugt ein Stück vor sich, so als versuchte er, Wasser aufzufangen.
Wenn ich früher achtlos an ihm vorbeilief, sammelte mein Kopf Argumente, warum das völlig
okay sei – obwohl es Energie kostete, krampfhaft so zu tun, als würde dieser Mensch zu meinen
Füßen nicht existieren. Aber die rechte Gehirnhälfte befeuerte meinen Schritt: Keiner muss auf
der Straße hausen! Wir leben in einem Sozialstaat! Die linke Gehirnhälfte ergänzte: Dieser
Mensch ist Opfer eines ungerechten Systems! Wenn du ihm Almosen gibst, fütterst du dieses
System! Es gibt kein richtiges Geben im falschen! Das Ergebnis: Der Mann kriegte keinen Cent.
Und am Gleis kam das schlechte Gewissen.
Seit ich beschlossen habe, nicht keinem, sondern jedem etwas zu geben, bleiben mir solche
schlechten Gefühle erspart. Das Geben ist zu einer Handlung aus dem Handgelenk geworden –
einer Selbstverständlichkeit.
Von den Leuten, die mir vorwerfen, ich täte das nur, um mich besser, vielleicht sogar
überlegen zu fühlen, lasse ich mich nicht mehr verunsichern. Es sind dieselben Leute, die noch
um den Preis einer Obdachlosen-Zeitschrift feilschen. Außerdem: Ja, verdammt, ich fühle mich
auch gut! Und deshalb mache ich weiter.
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