Europa der Regionen: Diese Vision klingt ziemlich abstrakt. Dabei kann man sie sich ganz sinnlich auf der Zunge zergehen lassen. Lardo und Limoncello aus Italien, Bamberger Hörnchen und Brez´n aus Deutschland, Schafskäse und Sancerre aus Frankreich oder griechische Oliven, österreichisches Kernöl, tschechisches Bier: Das sind nur wenige Beispiele für die zahllosen kulinarischen Eigenheiten, die aus der Vielfalt der Landschaften und ihrer Bewirtschaftung hervorgegangen sind.
Diese Vielfalt der Agrikulturen schätzen immer mehr Konsumenten, doch sie wird durch die Konzentration und Vereinheitlichung der Lebensmittelindustrien im EU-Binnenmarkt in die Enge getrieben. Dass ihr Erhalt nicht nur durch das Einkaufsverhalten bestimmt wird, sondern auch durch politische Regeln, das zeigt eine aktuelle Publikation, die heute vorgestellt wurde: der neue “Agrar-Atlas”. Er bündelt Daten und Fakten zur Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik (GAP). Damit setzt er eine ganze Serie solcher Atlanten zur Landwirtschaft fort, die in den vergangenen Jahren von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und der Zeitung Le Monde Diplomatique gemeinsam herausgegeben wurden.
Bodenatlas, Konzernatlas, Fleischatlas: Jenseits aller Sachbuchlisten sind diese Kompendien in den letzten fünf Jahren zu heimlichen Auflagenrennern geworden. Allein der Fleischatlas wurde von Tschechien bis Mexiko in vielen Länderausgaben und mehr als einer halben Million Exemplaren verbreitet. Schulen und Fortbildungseinrichtungen nutzen die besondere Mischung aus Kurzanalysen und einer Vielzahl von Schaubildern und Grafiken. Offenbar ist der Hunger nach anschaulichen, aber durchaus knochigen Sachinformationen enorm. Das allein ist schon eine Nachricht in Zeiten, in denen so viel über Desinteresse an Fakten und oberflächlich aufgeschäumtes Infotainment geklagt wird.
Gewiss, die Herausgeber der Atlanten selektieren und analysieren aus einer klaren, proökologischen Haltung heraus. Es geht um “Reformen für Äcker, Ställe und Natur”, der Adressat ist nicht zuletzt eine wachsende kritische Agrarbewegung. Manches wiederholt sich auch, wenn immer wieder die Folgen der Agrarchemie und der global vernetzten Fleischwirtschaft mit neuen Überschriften kritisch durchleuchtet werden.
Es geht um den höchsten Ausgabeposten der EU
Doch Fakten und Analysen gründen auf seriösen Quellen, und gerade die politische Frage des neuen Atlas, wie all diese Probleme mit Brüsseler Entscheidungen zusammenhängen, ist in der öffentlichen Debatte noch kolossal unterbelichtet. Dabei geht es bei der GAP mit fast 60 Milliarden Euro im Jahr noch immer um einen der höchsten Ausgabenposten der EU. Und außerdem um ein hochaktuelles Projekt.
Denn alle sieben Jahre werden die Regeln für die Brüsseler Subventionen neu verhandelt. Phil Hogan, der Agrarkommissar, hat seinen Reformentwurf im vergangenen Sommer mit den Regierungen der Mitgliedsstaaten diskutiert und dem Parlament vorgelegt. Er will die Bauern vor allem von Bürokratie befreien und die Landwirtschaft umweltfreundlicher machen. Mit welchen Mitteln, darüber sollen allerdings künftig die einzelnen Staaten befinden. Das begrüßen die einen, weil dann lokale Besonderheiten besser berücksichtigt werden könnten. Die anderen befürchten eine Renationalisierung der Agrarpolitik und damit eine weitere Schwächung der Union.
Die GAP-Reform ist also vorgegart, ähnlich einem eingeschweißten Brötchen – doch zu Ende gebacken wird sie erst, nachdem Europas Bürger Ende Mai über ein neues Parlament bestimmt haben. Im Wahlkampf wird die Landwirtschaft in der EU gewiss zu einem großen Thema. Schon nächste Woche steht sie auf der Tagesordnung, wenn mit der Grünen Woche in Berlin die größte und immer stärker politisch aufgeladene internationale Landwirtschaftsmesse beginnt.
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