/Times Square : “Kein New Yorker, der bei Verstand ist, begibt sich freiwillig hierher”

Times Square : “Kein New Yorker, der bei Verstand ist, begibt sich freiwillig hierher”

Times Square: Kreuzung Broadway und 42nd Street: Hier, am Times Square, ist nichts von Dauer. Und gerade das macht den Platz zum Sinnbild dieser Stadt.

Kreuzung Broadway und 42nd Street: Hier am Times Square ist nichts von Dauer. Und gerade das macht den Platz zum Sinnbild dieser Stadt.
© Claudia Paul für MERIAN

Wenn Sie das erste Mal eine Karte des New Yorker U-Bahn-Netzes sehen, bemerken Sie vielleicht, dass viele Linien auf den Times Square zulaufen wie Lichtstrahlen, die von einem schwarzen Loch verschluckt werden. Vielleicht bemerken Sie es auch nicht. Vielleicht übertrage ich nur meine Gefühle auf Sie. Schließlich bin ich New Yorker – und glauben Sie mir, so sehen die meisten New Yorker den Times Square: ein schwarzes Loch, um das man einen Bogen macht. Wenn wir nicht gerade im Besitz einer heißbegehrten Theaterkarte sind oder eine Verabredung haben, die wir nicht absagen können, meiden wir diese 25 Blocks, die von der 53rd Street im Norden zur 41th Street im Süden und von der 9th Avenue im Westen zur 6th Avenue im Osten reichen.

Warum? Weil sich am Times Square morgens, mittags und abends die Menschenmassen drängen. Im Schnitt nutzen jeden Tag 255.000 Passagiere die fünf U-Bahn-Stationen. Etwa 355.000 Fußgänger überqueren die Kreuzungen. Zu fünft nebeneinander schlendern die Touristen auf den Bürgersteigen und drehen sich dabei wie von einem magnetischen Pol angezogene Kompassnadeln, wenn sie die Hochhäuser, die elektronischen Nachrichtenticker, die alten Theater, die Flagship Stores bestaunen. Entweder das, oder sie irren herum, den Blick auf Smartphones oder Faltkarten geheftet, weil sie nicht wissen, wie sie irgendwohin kommen, wie sie jemanden ansprechen können, was die Münzen in ihrer Hand bedeuten. Sie wissen nur, dass sie hier sind, um New York, “das” New York zu erleben – genauer gesagt, den Teil, der mittlerweile für das Ganze steht.

Kein New Yorker, der bei Verstand ist, begibt sich freiwillig hierher. Ich würde jedoch niemals behaupten, bei Verstand zu sein, und so trat ich eines Morgens aus der Linie Q kommend mitten auf den Times Square, um zu sehen, was ich verpasst hatte. Um mich herum strömten in dichten Scharen Touristen. An der Kreuzung zweier der berühmtesten Straßen der Welt – Broadway, Heimstatt des amerikanischen Theaters, und 42nd Street, einstmals Amerikas Sündenpfuhl und heute Knotenpunkt der amerikanischen Kultur- und Unterhaltungsindustrie – bebte der Asphalt unter meinen Füßen, als über- und unterirdisch Lieferwagen und U-Bahnen vorbeirauschten. Inmitten dieses Durcheinanders standen zwei schwerbewaffnete Soldaten und scannten die Umgebung nach Ärger ab.

Nichts davon war neu für mich, da ich einmal in einem Verlagsbüro in der Nähe gearbeitet habe. Allerdings stimmten nicht alle Details des Times Square aus meiner Erinnerung mit dem Times Square überein, den ich gerade erlebte. So hatte inzwischen das Lokal des Fernsehkochs Guy Fieri seine Pforten geschlossen. Daneben stand das alte New-York-Times-Gebäude – nur dass es augenscheinlich nicht mehr die New York Times beherbergte. In dem Gebäude befand sich jetzt eine neue Attraktion: “National Geographic Encounter: Ocean Odyssey”, eine spektakuläre Ausstellung über die gefährdeten Weltmeere auf gut fünfeinhalbtausend Quadratmetern.


Dieser Artikel stammt aus MERIAN Heft Nr. 11/2018
© MERIAN

Ich beschloss, mir das genauer anzusehen. Die computergenerierte Reise begann im Untergeschoss, wo meine Gruppe, vor allem Familien mit kleinen Kindern, durch digitale Seegrasbeete geführt wurde. Über den Boden schossen projizierte kleine Heringe, auf denen Kinder herumtrampelten, als müssten sie ein Feuer austreten. Unser Guide – dem Textbuch unter ihrem Arm nach zu schließen, eine künftige Broadway-Schauspielerin – führte uns in eine stockdunkle Kammer, wo wir Walgesängen lauschten, bevor wir Zeuge eines tödlichen Kampfes zwischen monströsen 3-D-Tintenfischen wurden. Danach gelangten wir in einen realen Seetangwald, durch die strategische Platzierung unzähliger Spiegel ein wahrer Irrgarten. Ich schlug mich ganz gut durch, nur der verkaterte Brite hinter mir fluchte laut, als er zum dritten Mal mit der Nase gegen einen Spiegel knallte. Darauf folgte der Gnadenstoß: eine schwindelerregende Tauchfahrt in 3-D, in den Hauptrollen kreisende Drescherhaie und Wale, die sich einen Weg durch Fischschwärme sensten.

Das war kein richtiges Museum (man erfuhr sehr wenig) und auch kein Aquarium (hier lebte kein einziger Fisch). Diese ozeanische Odyssee erinnerte mich an die Buden mit Souvenirs, an denen man sich in der Schlange auf dem Weg zur Achterbahn vorbeischiebt.

Zurück auf dem Times Square bemerkte ich weitere Veränderungen. “BB King’s Blues Club” war verschwunden, genauso der “Roseland Ballroom”, der einem 200 Meter hohen Luxuswohnturm hatte weichen müssen. Ich kam an einer “Church of Scientology” vorbei und war schockiert – seit wann gab es die denn hier? Wenigstens stand das Lyceum noch, das älteste Theater der Gegend. Und der Disney Store. Überrascht stellte ich fest, wie erleichtert ich darüber war.

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