Den todtraurigen Weihnachtsopa dürften viele noch im Gedächtnis haben. Im Jahr 2015 erregte die Werbung einer Supermarktkette die Gemüter, weil ein vereinsamter Großvater darin seinen Tod vortäuschte, um die Familie endlich wieder zusammenzubringen. Statt eines Begräbnisses erwartete die Trauernden dann aber der schelmische, quicklebendige Opa. Aber was heißt es, abseits dieser Werbezumutungen anlässlich des Festes die Familie wiederzutreffen, den merkwürdigen Onkel, die stille Mutter, die cholerische Tante? Diese Frage hat sich Maruan Paschen in seinem zweiten Roman gestellt. Dabei bedient sich Weihnachten
von Maruan Paschen einer Erzählsituation, die sich schon vor Jahrzehnten
etabliert hat: Der Patient berichtet seinem Therapeuten von seinem
Leben. In diesem Fall heißt der eine Maruan Paschen, der andere Dr. Gänsehaupt.
Aber Weihnachten ist
kein weiteres biografisches Schreibprojekt, das sich an der gerade beliebten
Ich-Tümelei versucht. Das Therapiegespräch nutzt der 1984 geborene Autor
vielmehr, um ein schelmisches Szenario auf die Beine zu stellen, in dem eine schrecklich
nette und schrecklich merkwürdige Familie porträtiert wird. Deren Mitglieder
lässt Paschen zu Beginn per Autokarawane zu einer Hütte am See reisen, dort
wird wie jedes Jahr das Weihnachtsfest begangen. Die Onkel Berti, Tarzan, Otto
und Art treffen gemeinsam mit ihrer Schwester und deren Sohn – dem Erzähler
– ein, und während Paschen Paschen erzählen lässt, wie das Fondue vorbereitet
wird, findet der Sound dieses Buches zu
sich.
In einem teils märchenhaften Rhythmus hangelt sich der Erzähler
durch zumeist sonderbare Anekdoten. Etwa, wie Onkel Art als
Jugendlicher das Auto vom Studienrat Steinlein stahl und daraufhin vom
Dorfpolizisten Haller erwischt und vom Förster Strahler bestraft wurde. Das
Kapitel mündet in eine Gesellschaftsdiagnose des Nachkriegsdeutschlands
inklusive Moral von der Geschicht’: Der deutschtümelnde Filz der Hallers
und Steinleins und Strahlers mieft weiter vor sich hin – während die komischen
Paschens mit ihren “Unterkiefern von Fleischessern” außen vor bleiben.
Alles ist wörtlich zu nehmen
Aber so wenig Weihnachten
ein Ich-Roman ist, so wenig lässt sich Paschen darauf ein, bloß das Floskelmännlein
für Themen wie Herkunft und Integration zu sein. Auch wenn seine Alter-Ego-Figur
ihre “vielleicht milchkaffee-, cappuccinofarbene” Haut erwähnt und darüber
philosophiert, ab wann man als sogenannter “in Deutschland lebender Araber”
gelten darf, wird die Herkunft nicht zur alles entscheidenden Frage. Das Buch sträubt sich gegen eine
kategoriale Festlegung. Besonders deutlich wird diese Verweigerung, wenn
Paschen nach Tripolis fliegt und sich als Arzt ausgibt – und das nur, weil der
Pilot auf Arabisch einen medizinischen Notfall meldete: “Ich wollte sagen: Ja,
hier ist einer, der diese Sprache versteht. Hier ist einer, der in Deutschland
lebt und diese Wörter versteht.” Aber die Labels passen nicht; weder ist die
Figur ausgebildeter Arzt, noch lässt sie sich auf ihre migrantische Herkunft reduzieren.
Zwischen derlei Reminiszenzen kehrt der Erzähler immer
wieder zum siedend heißen Fondue zurück. Denn als Familienbande sind Art, Maruan
und der ganze Rest nicht nur bildhaft aneinandergekettet. Aus unerfindlichen
Gründen legen sie sich tatsächlich Handschellen an und schmeißen die Schlüssel anschließend
in den Fonduetopf. Die Symbolik wird greifbar, das literarische Sprechen macht
Ernst. Ein wenig erinnern diese Szenen an Drax aus Guardians of the Galaxy, der nicht kapiert, wie Metaphern
funktionieren. Er nimmt alles wortwörtlich, ein Zeigefinger am Hals ist für ihn
ein Zeigefinger am Hals. Bei Paschen wird
dieses Am-Schopfe-Packen der Sprache zum Programm. Da wird der Therapeut mit
dem irrsinnigen Namen denn auch gefragt, ob er den Unterschied zwischen
Worten und Wörtern kenne, nur um erklärt zu bekommen: “Worte bestehen natürlich
aus Wörtern und Wörter bestehen aus Buchstaben und diese Wörter bekommen ihren
Körper von Schreibmaschinen. Worte aber kriegen ihren Körper in uns.”
Hits: 130