Das jüngste Kapitel der brasilianischen Geschichte wirkt auf westliche Beobachter wie der politische Horrorfilm unserer Zeit: Dort ist es wirklich passiert, dort ist nicht einfach nur ein Rechtspopulist an die Macht gekommen, sondern ein lupenreiner Faschist, ein Ex-Militär, der seinen Rassismus und seine Schwulenfeindlichkeit offen zur Schau trägt, der zu Gewalt und Folter aufruft, der nicht einmal mehr ein Lippenbekenntnis zur Demokratie für nötig hält.
Dieses Unheil ist umso schockierender, als man Brasilien bis vor wenigen Jahren noch für ein vorbildliches Land halten konnte: für die größte Demokratie Südamerikas, die sich ökonomisch und gesellschaftlich viel schneller modernisierte als ihre Nachbarn Venezuela, Kolumbien oder Argentinien. Nach 500 Jahren grausamer Kolonialgeschichte schien sich mit Beginn des neuen Jahrtausends endgültig alles zum Guten gewendet zu haben. Brasilien war von der Weltkarte des Hungers verschwunden, seine Wirtschaft florierte, Barack Obama bezeichnete Luiz Inácio Lula da Silva, der sich vom Schuhputzer und Metallarbeiter zum Präsidenten hochgearbeitet hatte, als “beliebtesten Politiker der Welt”. Lulas Arbeiterpartei, die sich in den Achtzigerjahren als eine Vereinigung von Gewerkschaftlern gegen die Militärdiktatur gegründet hatte, schien Brasilien zu neuem Glanz zu führen.
Seit einigen Jahren aber sehen wir den Niedergang Brasiliens, wütende Straßenproteste und eine, so scheint es, aufs Neue eskalierende Gewalt; eine Präsidentin, die wegen Korruptionsvorwürfen aus dem Amt gejagt wird, und nun ein Faschist an der Macht. So stellt sich die brasilianische Krise aus der Ferne dar.
Betroffen und verwundert lehnt man sich zurück und fragt sich, wie das
nur passieren konnte. Vielleicht gibt es da gar nichts zu verstehen?
Vielleicht liegt es in der Natur der Sache? Vielleicht sind südamerikanische Länder einfach nicht in der Lage, zu stabilen Demokratie zu werden?
Unsere paternalistische Perspektive
Wenn
wir uns mit dieser paternalistischen und romantisierenden Perspektive
nicht begnügen wollen, wenn wir in Europa den Geschehnissen auf der
anderen Seite des Atlantiks nicht einfach nur gebannt zusehen, sondern
sie wirklich verstehen wollen, dann müssen wir unseren Blick über das
spektakuläre Geschehen hinaus erweitern. Dann dürfen wir nicht nur das
betrachten, was geschieht, sondern auch das, was nicht geschieht. Wir
müssen sehen, dass bestimmte Herrschaftsstrukturen in der brasilianischen Gesellschaft seit Hunderten von Jahren nahezu unverändert fortbestehen.
Weder der Aufstieg der Arbeiterpartei noch der Niedergang der
Demokratie in den vergangenen Jahren haben etwas an der postkolonialen
Wirtschaftsstruktur und der damit verbundenen postsklavischen
Gesellschaftsform geändert.
Schauen wir uns den Crash nochmals im Zeitraffer an. Beginnen lassen könnte man ihn im Jahr 2013: Molotowcocktails fliegen, Autos brennen, arme Brasilianerinnen und Brasilianer rebellieren gegen zu hohe Bustarife, gegen die Geldverschwendung für Großereignisse wie die Fußballweltmeisterschaft, gegen eine überforderte, korrupte Verwaltung. Es ist der Anfang vom Ende der Präsidentschaft Dilma Rousseffs, der ersten Präsidentin Brasiliens, die 2011 auf Lula da Silva gefolgt war.
Der filmreife Zusammenbruch
Die nächste Szene dann drei Jahre später: Auf dem Höhepunkt des wahrscheinlich größten Korruptionsskandals der Geschichte stimmen am 17. April 2016 die Abgeordneten der zweiten Kammer des Parlaments für die Amtsenthebung der Präsidentin. Während der Amtszeiten Lulas und Rousseffs zahlten der halbstaatliche Erdölkonzern Petrobras und das Bauunternehmen Odebrecht Regierungsvertretern aus aller Welt Hunderte Millionen Dollar Schmiergeld, damit diese ihre Geschäfte mit ihnen machen. Am Pranger steht eine Präsidentin, die von all dem gewusst und es gebilligt haben soll. Außerdem wirft man ihr vor, im Staatshaushalt einzelne Posten geschönt zu haben, um Sozialprogramme aufrechtzuerhalten. Die juristischen Ansichten gehen auseinander, aber alle wissen: Wenn Rousseff Fehler begangen hat, dann politische. “Verbrechen gegen die Amtsführung”, wie ihr verleumderisch vorgeworfen wird, beging sie nicht.
Es ist eine merkwürdige, eine exotische Szene, in der die brasilianische Demokratie zu Grabe getragen wird. In einem sechsstündigen Spektakel tritt jeder einzelne der 513 Abgeordneten nacheinander ans Rednerpult, nicht nur um seine Stimme abzugeben, sondern auch um sie zu begründen und zu inszenieren. Nicht wenige sind den Tränen nahe, sei es aus Freude oder aus Wut. Unter dem Gezeter und dem Geschrei der anderen Abgeordneten, die sich allesamt um das Mikrofon drängen, widmen sie ihre Stimme Gott oder ihrer Familie oder dem Vaterland.
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