/Selbstbestimmungsinitiative: Warum stellt die Schweiz das Völkerrecht infrage?

Selbstbestimmungsinitiative: Warum stellt die Schweiz das Völkerrecht infrage?

Am Sonntag entscheiden die Schweizer über eine der radikalsten
Volksinitiativen ihrer Geschichte. Gemeint ist damit nicht das skurrile Begehren, das eine
staatliche Unterstützung für Bauern fordert, die ihren Kühen die Hörner wachsen lassen.
Gemeint ist die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative. Eingereicht hat sie die
nationalkonservative SVP, die wählerstärkste Kraft des Landes. Die Initiative fordert: Das
nationale Recht soll mächtiger sein als das internationale, also auch als das Völkerrecht.

Findet das Volksbegehren eine Mehrheit unter den Schweizern und den Kantonen, hätte das nicht nur weitreichende Konsequenzen für das Land selbst, sondern für ganz Europa. Die Schweiz, die sich selbst gerne als Vorzeigedemokratie sieht, würde zum Vorbild für autokratische Regierungen wie die von Wladimir Putin in Russland oder die von Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei. Und sie würde dafür bejubelt von allen europäischen Rechtspopulisten: von der polnischen PiS über die österreichische FPÖ bis zur AfD.

Wie das kommt? Die Fragen, die die Initiative aufwirft, und die Sorgen, die sie artikuliert, treffen den politischen Zeitgeist.

Als der amerikanische Präsident Donald Trump im vergangenen September vor der UN-Generalversammlung sprach, klang er wie der Kampagnenleiter der SVP-Initiative: “Amerika wird Unabhängigkeit und Kooperation immer einer globalen Regierung, Kontrolle und Herrschaft vorziehen.” Trumps Forderung danach, sich “die Kontrolle zurückzuholen”, übersetzt die SVP mit “Selbstbestimmung”. Die Partei von Milliardär Christoph Blocher will die Schweiz aus multilateralen Organisationen möglichst raushalten und sie stattdessen durch ein Geflecht von bilateralen Verträgen mit anderen Ländern verknüpfen. Entscheiden soll darüber immer: das Volk.

Die Initiative richtet sich gegen ein Ohnmachtsgefühl angesichts einer Welt, in der das Nationale, das Selbstbestimmte, gegenüber dem Internationalen, der vermeintlichen Fremdbestimmung, immer mehr an Einfluss verliert. In der “die autonomen Entscheidungsmöglichkeiten gegenüber bloßer Mitsprache auf internationaler Ebene an Boden verlieren”, wie es der Zürcher Völkerrechts-Professor Oliver Diggelmann formuliert. Die Initiative stellt sich wahlweise gegen eine schweizerische, europäische oder globale Elite. Gegen Richter, die Recht schaffen, das nie in einem Parlament oder einer Volksabstimmung bestehen musste.

Eine der internationalen Organisationen, auf die sich die SVP eingeschossen hat, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die von ihm ausgelegte Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese trat in der Schweiz erst 1974 in Kraft, und bis heute sorgen die – sehr seltenen – Verurteilungen der Schweiz durch die Straßburger Richter für politischen Trubel. Die “fremden Richter” bedienen in der Schweiz einen historischen Topos: Immer schon lehnten sich die wackeren Eidgenossen gegen fremde Vögte auf. Wobei gern vergessen wird, dass am EGMR auch Schweizer Richter Recht sprechen.

Dieser Gerichtshof brachte die SVP überhaupt erst dazu, ihre Selbstbestimmungsinitiative zu lancieren. Im Jahr 2012 erklärte das höchste Gericht der Schweiz, das Bundesgericht, es sei in seinen Urteilen an die EMRK gebunden. Das gelte auch, wenn dort Urteile fielen, die dem Schweizer Grundgesetz widersprächen.

Im konkreten Fall ging es um die Ausweisung eines Mazedoniers. Der junge Mann war straffällig geworden und hätte abgeschoben werden müssen, so zumindest sah es die SVP. Immerhin hatte das Volk im Jahr 2010 einem Entscheid zugestimmt, der juristische Härte im Kampf gegen kriminelle Ausländer forderte. Doch die Bundesrichter entschieden: Die Abschiebung sei übertrieben.

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