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Migration: Ihnen bleibt die Wüste

Fünftausend Kilometer liegen hinter ihr. Sie hat Berge überquert und ist
durch einen Grenzfluss geschwommen. Tagsüber schwitzte sie auf heißem Asphalt, nachts fror sie
unter einer Plastikplane. Am vergangenen Donnerstag erreichte Ana Gonzales* schließlich
Tijuana, eine Grenzstadt im Norden Mexikos, zusammen mit ihrem 15-jährigen Sohn. Nur noch
wenige Meter trennen sie von den USA.

Immer wieder hatte sie während ihres Marsches durch Mexiko davon gesprochen, wie sehr sie sich auf diesen Moment freue. Doch nun klingt sie nicht fröhlich. Kraftlos flüstert sie ins Telefon: “Also, hier sind wir jetzt.”

Ana Gonzales ist eine von jenen Tausenden Migranten, die sich im Oktober aus Honduras auf den Weg in die USA gemacht haben. Weltweit wurden sie als “die Karawane” bekannt; in den USA war der Treck ein wichtiges Thema bei den Zwischenwahlen. Vor etwa einem Monat begleitete die
ZEIT
Ana Gonzales drei Tage lang durch Mexiko. Sie hatte damals gerade die Südgrenze des Landes überschritten, mehr als 3500 Kilometer lagen noch vor ihr. Seither hat sich Gonzales regelmäßig am Telefon gemeldet, ihr Sohn schickte Fotos per Facebook. Sie sprach von dem Husten, mit dem viele sich ansteckten und den sie bis heute nicht losgeworden ist. Sie berichtete von dem sechs Monate alten Baby, das unterwegs starb. “Wir wissen nicht, warum”, sagte sie und fügte hinzu: “Vielleicht war es zu viel für den Kleinen.”

Von einem Erlebnis erzählte Gonzales besonders ausführlich. Sie war mit der Karawane gerade auf dem Weg in die Stadt Puebla. Zwölf Stunden seien sie unterwegs gewesen, zu Fuß und ohne Pause, und noch immer lagen fünf bis sechs Stunden vor ihnen. Plötzlich habe ein Lkw neben ihnen am Straßenrand gehalten. Sie und ein paar andere stiegen ein – und bereuten es sofort. “Drinnen warteten vier Männer mit Waffen in der Hand”, sagte Gonzales. “Sie wendeten und fuhren denselben Weg zurück, den wir marschiert waren.”

Migranten sind in Mexiko ein Geschäft. Kartelle entführen sie und erpressen ihre Familien in der Heimat. Die Kriminellen verkaufen Kinder und Frauen als Prostituierte und zwingen Männer dazu, als Drogenkuriere zu arbeiten. Gonzales wusste das. “Ich hatte große Angst”, sagte sie. Was die Männer mit ihr und den anderen vorhatten, erfuhr sie allerdings nicht. Sie hätten einen Polizeiposten passiert, kurz darauf habe der Lkw gehalten, und alle mussten aussteigen. “Mitten im Nirgendwo.” Was Gonzales erzählt, lässt sich nicht überprüfen. Ihr Bericht ähnelt jedoch einem Fall, in dem die mexikanische Staatsanwaltschaft ermittelt: Etwa 100 Migranten sollen auf der gleichen Strecke entführt worden sein, ebenfalls von Lkw-Fahrern. Ein Zeuge sagte aus: “65 Kinder und sieben Frauen wurden verkauft.”

Zu Beginn ihres Marsches fühlte sich Ana Gonzales in der Masse der Migranten noch geschützt. Auf der Ladefläche des Lkw bekam sie zu spüren, wie mächtig die Kriminellen in Mexiko sind. So mächtig, dass nicht einmal eine Karawane, die vom Staat und von Journalisten beobachtet wird, sie davon abhalten kann, Verbrechen zu begehen.

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