Irgendwo zwischen meinem Studienende und dem ersten
Vollzeitjob ist mir die Fähigkeit abhandengekommen, mich so richtig volllaufen
zu lassen.
Nicht dass ich es früher nicht ausreichend geübt hätte. Zum
Bedauern meiner Eltern gehörte ich nie zu jener Sorte Teenager, die sich von
altersgerechten Beschäftigungsmöglichkeiten wie Tennis oder Flötenunterricht
angesprochen fühlten. Als vollwertiges Mitglied der Generation Komasaufen traf
ich mich lieber jeden Freitagabend mit meinen drei Freundinnen, um nach der
Schule im Kinderzimmer des hoffentlich leeren Elternhauses heimlich Malibu
Orange zu trinken. Wir aßen Pringles, kosteten den süßen Nektar von
zuckerhaltigen Alkopops (was ein Wort) und schauten The Ring. Schon während
der Woche fieberte ich auf unser kleines Geheimnis hin. Später stiegen wir auf
härtere Drinks um, damit wir uns in der Schlange vor den Türstehern der
Vorstadtdisco nicht in die Hose machten – und uns stattdessen wie 18-jährige
Studentinnen fühlen konnten.
Ja, ja, ich weiß schon – saufen ist ungesund, schädigt das
Nervensystem, zerstört Gehirnzellen. Dinge, die man zum produktiven Arbeiten
braucht. Saufen verwandelt mich auch in diesen Menschen, der zu laut über seine
eigenen Witze lacht und dumme Geschichten erzählt, für die er sich am nächsten
Morgen schämt.
Und doch bin ich heute froh, eine richtige Jugend gehabt zu
haben. Eine, in der mich Freunde donnerstagabends abholten, ohne mich oder
meine Eltern vorher zu fragen, welche Prüfung am nächsten Tag anstand.
Sie hatten beschlossen, feiern zu gehen und mich
mitzunehmen. Ohne Widerrede. Ohne fünfunddreißig Minuten über das Für und Wider
nachzudenken, darüber, was alles schiefgehen oder am nächsten Tag verpasst
werden könnte. Aus heutiger Perspektive war meine Jugend genau dieses “im
Moment leben”, von dem heute alle auf Instagram sprechen, nachdem sie sich
einen Slot für “Quality Time” mit ihren Liebsten in den Google Calendar
eingetragen haben.
Wer Medienberichte über “die Jugend” von heute liest, stellt
vor allem fest, dass sie immer weniger trinkt. Die Politiker jubeln, endlich haben die Antialkoholmaßnahmen gewirkt, die
ganzen teuren Kampagnen, gedruckt auf Autobahnplakaten. Ohne die Folgen von
massivem Alkoholkonsum schönzureden: Ich glaube nicht, dass der Grund für den
geringen Alkoholkonsum der Jugend ausschließlich der ist, dass Sozialarbeiter
und Lokalpolitiker mit ihren Motivationsreden und Abschreckungskampagnen eine
gute Arbeit geleistet haben.
In einer Leistungsgesellschaft, die ständige Verfügbarkeit
und Kompetenz schon für die Jüngsten predigt, ist es nicht verwunderlich, dass
der Rahmen fehlt, loszulassen und mal über die Stränge zu schlagen. Faulheit
hat ein negatives Image, sie ist mit dem Stigma der Unproduktivität, Antriebs-
und Nutzlosigkeit verbunden und wird als unverzeihliche Charakterschwäche von
Individuen abgestempelt. Heute wie damals ist die schlimmste Konsequenz eines
Katers, nicht mehr arbeiten zu können.
Alkohol uncool zu machen war das Beste, was großen,
mittelgroßen und kleinen Konzernen passieren konnte. Keine verkaterten
Mitarbeiter mehr, weil sich niemand traut, auch nur eine Minute zu spät zu
kommen. Keine Menschen, die sich nach ausschweifenden Partys sehnen, weil sie
erst gar keine kennen. Dabei kann Faulheit durchaus als Motor einer befreiten
Arbeit funktionieren: als Fähigkeit, eine Balance zwischen Verausgabung und
Verweigerung, Zeitverschwendung und Zeitverwendung zu finden. Eine Balance, wie
der Hohe-Luft-Chefredakteur schreibt, die man selbst unter Mußebedingungen
immer wieder verfehlen muss, um sie einigermaßen halten zu können.
Wie oft habe ich selbst darauf verzichtet, nach der Arbeit
auf eine Party, eine Vernissage, einen kleinen Umtrunk zu gehen, weil ich zu
müde war? Weil ich keine Lust hatte, am nächsten Tag noch kaputter zu sein als
heute – selbst ohne Alkohol? Für wen, frage ich mich heute. Für mich? Wie oft habe
ich eine laue Ausrede erfunden, nur um gegen 20 Uhr im Bett zu liegen, Game of
Thrones zu streamen und mich zu wundern, warum ich ein Jahr nach meinem
berufsbedingten Umzug immer noch nicht in Hamburg angekommen war?
Wir müssen uns nicht jede Woche unter den Tisch saufen,
keine Frage, und doch finde ich: Wir haben aus falschen Gründen verlernt, uns
zu betrinken. Von mir aus, dann saufen wir eben nicht, wenn uns sofort davon
schlecht wird und wir auf unsere Gesundheit achten. Oder weil wir nicht
aggressiv werden wollen – oder betrunken den Ex-Freund anrufen.
Aber nicht trinken – und früh nach Hause gehen – , nur weil
wir am nächsten Morgen arbeiten müssen? Was ist mit uns passiert? Wo sind die
Nächte hin, in denen wir ewig auf waren, um betrunken und bekifft zusammen Nick Cave zu hören? In denen wir selbstverständlich mitgingen in die nächste Bar,
ohne vorher den bestmöglichen Heimweg zu googeln?
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