Als mich die Einladung zu einem Klassentreffen erreicht und ich überlege,
ob ich hinfahren soll, fällt mir zuerst Rocco ein. Rocco und ich waren nicht befreundet. Er
gehörte zur coolen und ich zur Streberfraktion unserer Klasse. Aber in einer eiskalten
Dezembernacht habe ich einmal sehr lange seinen Kopf festgehalten, weil er selbst zu betrunken
dafür war. Mit ein paar anderen hatten wir zum ersten Mal ohne Eltern Silvester gefeiert, und
Rocco hatte die Hausbar der Gastgeber geplündert. Einige Zeit später, im Sommer 1988,
beendeten wir die zehnte Klasse an unserer Schule in Wittgensdorf, einem kleinen Vorort von
Chemnitz. Danach verlor ich ihn und die meisten anderen meiner ehemaligen Mitschüler aus den
Augen.
Am Tag des Klassentreffens bin ich viel zu früh in Wittgensdorf. Drei Stunden sind es von Berlin bis hierher. Ich wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Nun habe ich noch jede Menge Zeit, bevor ich meine Klassenkameraden wiedersehen werde. Langsam fahre ich mit dem Auto die Dorfstraße einmal hinauf und einmal hinunter. Wie über viele der langen sächsischen Dörfer sagt man auch über Wittgensdorf: Es zieht sich. Ich lasse die Autoscheiben herunter, es ist noch warm, ein Samstag Mitte September.
Ich bin ein wenig aufgeregt. Schließlich sind unsere Klassenkameraden oft die Menschen, mit denen wir vieles das allererste Mal tun. Wir haben die ersten Geheimnisse miteinander geteilt, die erste Zigarette geraucht oder uns nicht getraut, den ersten Kuss versucht oder eben das erste Mal ohne Eltern Silvester gefeiert. Und in gewisser Weise sind wir füreinander immer die geblieben, die wir damals waren. Ein Klassentreffen ist wie ein Blind Date – nur umgekehrt. Man begegnet Menschen, die einem einmal sehr vertraut waren, und stellt oft fest, dass sie inzwischen zu Unbekannten geworden sind.
30 Jahre liegt unser letzter gemeinsamer Schultag zurück. Keiner von uns ahnte in jenem Sommer 1988, dass sich die DDR ein Jahr später radikal verändern würde. Die meisten begannen eine Berufsausbildung, weil man damit schneller zu Geld kam und sich die Löhne der Arbeiter in der DDR sowieso nicht wesentlich von denen der Akademiker unterschieden. Nur drei meiner Mitschüler wechselten wie ich auf eine Oberschule und machten Abitur. Im Jahr der Wiedervereinigung hielten wir Facharbeiterbriefe und Reifezeugnisse eines Landes in der Hand, das es schon nicht mehr gab. Man könnte sagen, wir waren die Letzten unserer Art.
Karl-Marx-Stadt wurde in Chemnitz umbenannt. Damals war das Karl-Marx-Monument genauso häufig auf den Titelseiten der großen Zeitungen zu sehen wie jetzt. Nach dem Abitur ging ich nach Leipzig zum Studium, und der Kontakt zu meinen Mitschülern brach endgültig ab. Die einen zogen – wie ich später auch – in den Westen Deutschlands. Die anderen sind in Sachsen geblieben, aber ich fuhr nur noch selten dorthin zurück. Seit Jahren bin ich nun in Berlin zu Hause. An den regelmäßig stattfindenden Klassentreffen habe ich seither nur zweimal teilgenommen. Ich kann mich kaum noch erinnern, wann das war oder mit wem ich damals gesprochen habe, deshalb fühlt es sich nun an, als würde ich meine alte Klasse nach 30 Jahren das erste Mal wiedersehen.
Eigentlich hat sich gar nicht so viel verändert, denke ich, während ich von der Dorfstraße abbiege und zu den Neubaublocks fahre, in denen fast die Hälfte meiner Klasse aufgewachsen ist. Ich auch. Beim Anblick der zum Teil verlassenen, zum Teil bewohnten Häuser wird mir allerdings klar, wie richtig und zugleich falsch so ein Gedanke sein kann. Nichts ist hier mehr so wie an einem Samstag vor 30 Jahren: Es sind keine Schulkinder zu sehen. Die Spielplätze sind verschwunden. Die Fensterscheiben in einigen Blocks sind zerschlagen und die Eingangstüren mit Holzlatten verkantet. Und doch flattert weiße Wäsche auf den Leinen. Die Mülltonnen stehen noch dort, wo sie immer standen. In einigen Fenstern hängen Gardinen, als wären meine Eltern und die meiner Schulfreunde nie ausgezogen. Es ist ein merkwürdiges Nebeneinander von Verfall und Bestand. Vielleicht sogar Neuanfang. Zwei der Plattenbaublocks sind frisch saniert.
Einige meiner Mitschüler sind in Wittgensdorf geblieben, erfahre ich
später, aber nur ein einziger, Mirko, wohnt noch hier im Block. Sven lebt im Westharz, Heiko
bei Braunschweig, Mike in Schwaben, andere sind nach Chemnitz oder in einen Nachbarort
gezogen. Von Jeanette, Thilo und dem zweiten Mirko weiß ich nicht, wo sie heute leben, sie
sind nicht zum Klassentreffen gekommen. Alle, die noch in Wittgensdorf wohnen, sind im älteren
Teil des Dorfes aufgewachsen; also nicht dort, wo die Neubaublocks stehen. Ist das Zufall oder
nicht? Aber auch dort ist die Zeit nicht stehen geblieben. Rathaus, Kirche und das
Schulgebäude aus rotem Backstein gibt es noch, Kino, Eisdiele und Volkshaus sind verschwunden.
Und doch erzählen vor allem “unsere” Blocks von den radikalen Umbrüchen der Nachwendezeit. Als
viele der Arbeiter, für die das Viertel einst gebaut worden war, ihre Arbeit in der
Textilfabrik und der Gießerei verloren, wegzogen und wir, ihre Kinder, unser Glück anderswo
suchten. So als hätten die Zäsuren im Leben unserer Eltern uns vertrieben.
Auch Mike fährt, wenn er wieder einmal hier ist, immer zuerst die Dorfstraße einmal hinauf und einmal hinunter. Jeden Morgen sind wir zusammen zur Schule gegangen. Jetzt ist er der Erste, dem ich im Braugut in die Arme laufe. Das Braugut steht im Nachbarort von Wittgensdorf, an einem Samstagabend ist hier viel los, weil alle Clubs in der Umgebung nach und nach zugemacht haben. Wobei die Clubs auf dem Land gar keine Clubs sind, sondern Gaststätten mit einem Tanzsaal. Das Braugut hatte es bis 1999 als Ausgehort gar nicht gegeben, und es scheint seither vom Niedergang seiner Umgebung profitiert zu haben. Gasthof und Tanzsaal in einem – ein altbewährtes Konzept, das offenbar immer noch funktioniert. Im Neubauviertel hatte ich keine Schulkinder gesehen, hier sehe ich nur Leute über 40. Es gibt zu wenige Jüngere in Sachsen. Diejenigen, die das Land in den Neunzigern verließen, haben mit dazu beigetragen.
Mike ist 1991 nach Schwaben gezogen, weil die Firma, bei der er als Maurer gearbeitet hatte, pleitegegangen war. Auch Christiane ist Anfang der Neunziger in den Westen gegangen. Die Geburtenrate in Ostdeutschland war nach der Wende so rapide gesunken, dass sie als Hebamme hier nicht mehr gebraucht wurde. Wie Christiane und Mike haben es viele von uns gemacht. Im Westen Deutschlands fanden wir nicht nur Arbeit, sondern hatten auch Aufstiegsmöglichkeiten. Inzwischen ist Mike kein Maurer mehr, sondern Schaltplanzeichner. Seine Stimme würde ich aus Hunderten anderen heraushören, auch wenn er inzwischen kein Sächsisch mehr spricht, sondern eher Schwäbisch.
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