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Novembergruppe: Schule des Sehens



Karl Völker, Beton, um 1924
© Nachlass Karl Völker, Foto: Klaus E. Göltz

Die Urteile kennen kein Erbarmen. Ein “Tollhaus” erlebt der Kritiker des Berliner Tageblatts, sein Kollege von der Berliner Volkszeitung fühlt sich in ein “Lachkabinett” versetzt: “Es schreit hier von Farben, Bandwürmer winden sich, Bilder sind da, die nichts als ein Sammelsurium von Linien, Farben und Unentzifferbarem sind.” Andere Stimmen empören sich über den “unerträglichen Intellektualismus” der Werke oder empfinden sie, insbesondere die der Bildhauer, als “Gipfel der Sondergängerei”. Auch das Publikum reagiert verstört, lautstark machen Besucher ihrem Ärger und Unverständnis Luft, vereinzelt kommt es sogar zu tätlichen Angriffen auf die Kunst.

Es ist der erste Auftritt einer neuen radikalen Künstlervereinigung im Sommer 1919, der solch skandalträchtiges Echo hervorruft. Auf der Kunstausstellung Berlin im Glaspalast am Lehrter Bahnhof zeigt die Novembergruppe in ihr eigens zugewiesenen Sälen 170 Werke von knapp 80 Mitgliedern. Ein Debüt in großem Rahmen: Die staatlich organisierte Schau ist die Nachfolgerin der traditionsreichen Großen Berliner Kunstausstellung, als Verkaufs- und Leistungsschau lockt sie Hunderttausende von Besuchern und garantiert hohe öffentliche Aufmerksamkeit.



Rudolf Belling, Kopf in Messing (Toni Freeden), 1925
© bpk/Nationalgalerie, SMB/VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Dass das breite Publikum damals so negativ reagierte, mag aus heutiger Sicht befremden, hat aber eine einfache Erklärung: Die meisten Besucher hatten eine solche Kunst noch nie gesehen, sie war ihnen vollkommen unzugänglich. Eine Kunst, die mit ihrer abstrahierenden Formensprache ein Geburtshelfer des neuen Menschen sein wollte und sich selbst als Avantgarde verstand. Noch wenige Jahre zuvor, unter dem Kaiser, hatte eine strenge Jury moderne Kunst von der Großen Berliner Kunstausstellung weitgehend ausgeschlossen, wer sie sehen wollte, war auf wenige Galerien angewiesen. Nun sollte die erstmals zur Ausstellung zugelassene ­Novembergruppe eine Brücke zu dieser neuen Kunst bauen und Strömungen wie dem Expressionismus, Kubismus oder Futurismus eine Plattform bieten. Sie sollte als Schule des Sehens wirken und von der Freiheit der Kunst in der jungen deutschen Republik künden.

Für die nur wenige Monate zuvor in den Revolutionswirren des Herbstes 1918 gegründete Gruppe war dieser Auftrag ein großer Erfolg. Ganz offiziell war sie zum Botschafter der demokratischen Erneuerung geworden. Viele ihrer Künstler kannten sich bereits aus der expressionistischen Gruppe Neue Secession, die sich im Ersten Weltkrieg aufgelöst hatte. Andere kamen aus dem Umkreis der avantgardistischen Galerie Der Sturm, deren Gründer Herwarth Walden dem preußischen Kultusminister in den Revolutionstagen versichert hatte: “Wir wollen nicht etwa eine Diktatur des Expressionismus aufstellen, wir wollen aber für unsere Bestrebungen die gleichen Rechte, auch der staatlichen Unterstützung und Hilfe erhalten wie alle übrigen Richtungen in der Kunst.”



Dieser Artikel stammt aus Weltkunst Heft Nr. 150/2018
© Weltkunst Verlag

Treibende Kräfte der Gründung waren Max Pechstein und Georg Tappert gewesen, eine große Rolle spielten auch Rudolf Belling, Cesar Klein und Rudolf Bauer. Mit einem “Aufruf”, der am 13. Dezember 1918 in der Zeitschrift Die schöne Rarität erschien, wandte sich die Gruppe erstmals an die Öffentlichkeit und ihre Künstlerkollegen: “Die Zukunft der Kunst und der Ernst der jetzigen Stunde zwingt uns Revolutionäre des Geistes (Expressionisten, Kubisten, Futuristen) zur Einigung und engem Zusammenschluss. Wir richten daher an alle bildenden Künstler, welche die alten Formen in der Kunst zerbrachen, die dringende Aufforderung ihren Beitritt zur ‘Novembergruppe’ zu erklären.”

Der Aufruf stieß auf fruchtbaren Boden. Anfang 1919 verzeichnete die Gruppe schon mehr als 60 Mitglieder, es bildeten sich erste Ortsgruppen außerhalb von Berlin, etwa in Kiel, Stuttgart und Hamburg. Im Unterschied zu früheren Künstlervereinigungen war es keine Verpflichtung auf einen gemeinsamen Stil, der die Gruppe einte. Ihre Maxime war Offenheit und Pluralität, ihre verbindende Idee die Aufgeschlossenheit gegenüber allem Fortschrittlichen in der Kunst. Am Aufbau der neuen Republik wollte sich die Gruppe aktiv beteiligen und strebte dabei die “engste Vermischung von Volk und Kunst” an.

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