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Reeperbahn: Nachts um halb eins

Man möchte jetzt bitte, dass sich der Mann im camouflierten
Fellkragenanorak, der völlig fertig aus der Alkotheke stolpert, diesem
vielleicht trashigsten aller Trashläden der Meile, auch erbricht, man möchte
das unbedingt, aber nicht aus falscher Häme, sondern damit man den eigenen
Spaziergang abbrechen kann, weil es schlimmer ja nicht wird. Obwohl es
natürlich immer noch schlimmer wird auf der Reeperbahn nachts um halb eins. Der
Mann hält sich an der Straße fest. Tu es, du drolliger Freitagabendstrolch,
kotz uns die Trostlosigkeit des Kiezes vor die Füße! Er würgt, würgt noch mal,
aber dann tut er einem den Gefallen leider doch nicht, sondern stolpert von
dannen, in eine weitere Nacht, die in keinem Buch und keinem Film auftauchen
wird. Aber die Bücher und Filme, die sehr bald auftauchen, werden noch mehr
herlocken. Das steht fest, viel fester als der Typ eben. Auch im Winter ist es
voll auf der Reeperbahn, ihre Besucher sind es ebenso.

Am 18. Februar 2019 erscheint der Roman Große Freiheit von
Rocko Schamoni, und nur drei Tage später bringt Fatih Akin den Film Der Goldene
Handschuh
in die Kinos, der wiederum, ein jeder weiß es, auf dem Bestseller
von Schamoni-Kollege Heinz Strunk basiert, wozu es ja auch immer noch ein Stück
im Schauspielhaus gibt. Parallel dazu wiederum buhlen allerdings das St. Pauli
Theater mit Große Freiheit Nr. 7 und Stefan Gwildis als Star um
Beachtung, was aber eben nicht so einfach wird, weil Candy Bukowski samt Olivia Jones zur Monatsmitte mit ihren Sexshop-Storys den Markt stürmen und, das
bitte nicht vergessen, auch Elbschlosskeller-Wirt Daniel Schmidt bald auf 256
Seiten aus seinem Leben erzählt.

Hamburg ist eigentlich eine ziemlich große Stadt mit
immerhin 104 Stadtteilen. Derzeit aber wirkt es mal wieder, als gäbe es nur
eine Straße, mit der sich die hiesige Kulturszene beschäftigen darf. Das ist
nicht nur komisch, sondern richtiggehend tragisch, erst recht, wenn man sich
die gemeinte Straße an einem Freitagabend anschaut. Wenn sich also ihr
maximales Elendspanorama entfaltet, zwischen null Uhr und drei Promille,
zwischen Herzblut und Hamburger Alm, diesen Läden, die den Charme einer
Sparkassenfiliale verströmen, aber einem Junggesellinnenabschied, ausweislich
der Schärpen das Team Bride aus Henstedt-Ulzburg, gerade recht kommen. Ain’t
nobody love me better
.

Diese ständige Beschwörung der einstigen Meile, auf der es noch Typen gab

Jetzt mag mancher einwenden, es könne ja wohl nicht
überraschen, dass der Kiez in seiner derzeitigen Verfassung ein trauriger Fall
sei, und überhaupt, die genannten Köpfe würden sich doch gar nicht mit dem
Kiez von heute befassen! Das ist korrekt. Das ist aber auch das Problem. Diese ständige
Beschwörung der einstigen Meile, auf der es noch Typen gab und alles nicht
besser war, aber anders. Und in diesem Andersgewesensein war es dann auf jeden
Fall, so die kollektive Übereinkunft, erzählenswerter. Wir haben es da mit
einer besonders dramatischen Ausprägung der Nostalgie zu tun, und wo Nostalgie
waltet, sind Kitsch und Verklärung nicht weit.

Die literarische Qualität von Strunks Werk soll dabei gar
nicht in Abrede gestellt werden, die war natürlich üppig vorhanden, wurde mit
reportagiger Genauigkeit entfaltet. Und Rocko Schamonis neuer Erguss liest sich
mindestens unterhaltsam, so viel darf man hoffentlich verraten, wenn auch nicht
mehr, sperrfristbedingt, der Verlag ist streng.

Strunk hat den ungewaschenen Frauenmörder Fritz Honka auf unser
aller Couch gelegt, Schamoni porträtiert die Bordelllegende Wolfgang Köhler, im “Milljöbesser bekannt als Wolli Indienfahrer. Kann man machen, klar.
Aber muss man denn? Wieso diese Obsession, die letzterdings dazu führt, dass
sich eine diffuse Ermüdung einstellt, jedenfalls beim Rezensenten?

Es ist nach Mitternacht, die Skianzugsprostituierten am
Burger King bedrängen Vorbeiflanierende noch ein bisschen plumper, als man den
natürlich ein bisschen harten, wiewohl unausweichlichen Gedanken denkt: Am Ende
ist das nur Bequemlichkeitsliteratur. Vermeintlich er- und aufregend, aber
tatsächlich allzu bieder und brav im schlecht bemäntelten Ansatz, Bestenlisten
zu erstürmen. Hey, der Handschuh hat immerhin den Wilhelm Raabe-Literaturpreis
geholt! Das müsste doch zu wiederholen sein, mag sich Schamoni gedacht haben. Und
selbst wenn nicht, wird sich seine Große Freiheit gut verkaufen.

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