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Brexit: “Das ist politischer Wahnsinn”

Alexander Betts ist Professor an der Universität Oxford und forscht vor allem zu den Themen Migration und Internationale Beziehungen. Betts hat sich bereits mehrfach in der Brexit-Debatte zu Wort gemeldet. Wir treffen ihn auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.

ZEIT ONLINE: Herr Betts, 2016, nur fünf Tage nach dem
Referendum, haben Sie in einem Ted-Talk gesagt: Der Brexit hat zu einer
Kernschmelze in der britischen Politik geführt. Wo stehen wir heute, zweieinhalb
Jahre später?

Alexander Betts: Damals war der Schock
bereits groß. Und man mag es kaum glauben: Es ist alles noch viel schlimmer gekommen.
Rückblickend wurde 2016 eine Chance verpasst. Die Politik hätte dem Bürger
sagen können: Wir respektieren das Ergebnis des Referendums. Wir werden alle
Optionen für einen Austritt aus der EU prüfen, aber wir wissen heute noch
nicht, wie ein Brexit am Ende aussehen könnte. Sobald wir es wissen, werden wir
euch erneut darüber abstimmen lassen. Das hätte ein zweites Referendum, auf das
wir gerade zulaufen, viel stärker legitimiert.

Brexit: Alexander Betts

Alexander Betts
© John Phillips/Getty Images

ZEIT ONLINE: Stattdessen gibt es einen ausverhandelten
Kompromiss mit der EU, den im britischen Parlament niemand wirklich will.

Betts: Ja. Theresa May hat mit der Europäischen Union zweieinhalb
Jahre über den Brexit verhandelt und dabei die eigene Partei, aber auch die
Opposition viel zu wenig eingebunden. Das Ergebnis sehen wir jetzt. Wir sind in
einer Sackgasse gelandet.

ZEIT ONLINE: Ist die britische Premierministerin allein
dafür verantwortlich?

Betts: Manche sagen, Theresa May hat gewissen Respekt
verdient. Was stimmt: Sie hat mit hoher Integrität am Brexit gearbeitet, obwohl
sie ursprünglich die EU gar nicht verlassen wollte. Sie hat aus ihrer Sicht versucht,
den besten Kompromiss für Großbritannien auszuhandeln. May hätte sich aber viel
früher versichern müssen, was die eigene Partei will, für was Mehrheiten im
Parlament existieren. Diese Debatte hat erst Anfang Januar so richtig begonnen.
Das ist viel zu spät, wenn Großbritannien bereits im März die EU verlassen soll.

ZEIT ONLINE: Gab es überhaupt eine Chance auf eine
gemeinsame Linie – zumindest unter den Tories? Jacob Rees-Mogg und Boris Johnson wollen einen möglichst harten Schnitt mit der EU.

Betts: Natürlich gab es dafür keine Garantie. Aber man hätte
es zumindest versuchen müssen. Was wir jetzt sehen, ist politischer Wahnsinn.

ZEIT ONLINE: Wie geht man mit diesem Wahnsinn am besten um?

Betts: Die Umstände diktieren uns die noch möglichen
Alternativen: Wir müssen uns zwischen einem Austritt ohne Abkommen, einem
Verbleib in der EU, und einer Art soften Brexit, der sich an Mays Kompromiss
anlehnt, entscheiden.

ZEIT ONLINE: Für keine der Alternativen scheint es eine
Mehrheit im Parlament zu geben.

Betts: Deshalb wäre es sinnvoll, die Frist für Verhandlungen
mit der EU zu verlängern.

ZEIT ONLINE: Also erst mal Zeit gewinnen?

Betts: Genau. Aber natürlich ist das keine Lösung. Wir haben
bereits in der Vergangenheit viel Zeit verschwendet und keine gemeinsame Linie
gefunden. Deshalb ist derzeit das wahrscheinlichste Szenario ein Austritt ohne
Abkommen. Das wäre jedoch eine politische, ökonomische und soziale Katastrophe.

ZEIT ONLINE: Theresa May sagt, Großbritannien kann einen No
Deal managen.

Betts: Das sehe ich nicht. Bei einem Austritt ohne Abkommen
müssen wir unser künftiges Verhältnis zur EU in jedem Punkt einzeln neu verhandeln.
Wir müssen schnell funktionierende Übergangslösungen finden. Gleichzeitig wären
die kurzfristigen Schäden für die Wirtschaft und die Politik enorm, weil wir so
eng verzahnt sind.

ZEIT ONLINE: Wie kann man ein solches Szenario noch
vermeiden?

Betts: Wenn das Parlament keinen Kompromiss finden kann,
bleibt uns nur, die Bürger erneut zu fragen.

ZEIT ONLINE: Über welche Alternativen sollen die Bürger
entscheiden? Remain? Mays Kompromiss? No Deal?

Betts: Die Fragestellung ist
ein großes Problem. Sobald drei Alternativen
zur Auswahl stehen, wird es sehr kompliziert. Deshalb müssen wir mit Experten
zusammenarbeiten, die sich in Volksbefragungen sehr gut auskennen. Wir brauchen
einen funktionierenden Mechanismus für ein zweites Referendum. 

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