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Deutschland nach Angela Merkel: Alternativlosigkeit ist Gift

Das Ende der Ära Merkel ist ein Neuanfang, eine Chance für die politische Kultur in Deutschland. Aber worin
besteht sie genau? Für unsere Serie
“Nach Merkel” haben wir Autoren aus verschiedenen Bereichen um Anregungen und Antworten gebeten.

Zwischen Angela Merkels Amtsantritt im Jahr 2005 und heute hat sich
international die politische Landschaft der westlichen Länder grundsätzlich
transformiert. Das wichtigste Element des Wandels ist das, was man die internationale
populistische Revolte nennen kann. Sie reicht von Donald Trumps Wahl über
die Brexit-Abstimmung in Großbritannien, die starke Rolle der Rassemblement
National und die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich bis zur
Regierungskoalition aus Rechts- und Linkspopulisten in Italien. Die
populistische – in erster Linie rechtspopulistische – Revolte geht dabei weit
über den alten Westen hinaus, wie man in Polen, Ungarn, Indien oder Brasilien sehen kann.

Historiker werden in einigen
Jahrzehnten dicke Bücher über diese populistischen Bewegungen der 2010er-Jahre
schreiben – aber wir befinden uns im Moment mitten in einem offenen Prozess.
Deutschland ist in seiner Außenpolitik direkt mit diesen Tendenzen
konfrontiert. Innenpolitisch fallen sie bislang schwächer aus, aber sind doch
deutlich vorhanden: mit der AfD, Protesten wie in Dresden oder Chemnitz,
schließlich und vor allem in der enthemmten politischen Kommunikation, die in
den sozialen Medien tagtäglich stattfindet. Wir können kaum mehr die Augen
davor verschließen: Die große politische Auseinandersetzung dieser Tage ist die
Herausforderung des bislang etablierten Liberalismus durch den Populismus. Mit “Liberalismus” ist dabei international das ganze Spektrum der moderaten
Parteien von den Sozialdemokraten bis zu den gemäßigten Konservativen gemeint –
die Vertreter der “liberalen Demokratie”, die weltweit gegenüber den Populisten
in die Defensive geraten.

Was hat das mit Angela Merkel zu
tun? Zunächst war und ist Merkel in ihrem Politikstil der – zu Recht gelobte –
personifizierte Antipopulismus: ein sachlicher, jeglicher Polemik abholder,
auf Verhandlung statt auf Durchsetzung um jeden Preis setzender Stil. Ein
Politikstil der internationalen Kooperation und der gelebten Zivilität. Auf
einer anderen Ebene wird das Urteil jedoch kritischer ausfallen: Die Politik im
Deutschland der Ära Merkel hat den Populismus indirekt gefördert, den sie
eigentlich verhindern will. Dies hat auf einer tieferen Ebene gar nicht so sehr
etwas mit konkreten Politikinhalten – von der Wirtschafts- bis zur
Migrationspolitik –, sondern mit der Form
der Politik zu tun. Zugespitzt gesagt: Die liberale Demokratie hat sich selbst in den vergangenen Jahrzehnten im
gesamten Westen geschwächt und dadurch
den Populismus erst groß werden lassen.

Differenz und Dissens sind der Normalfall

Inwiefern? Natürlich muss man zunächst
den schillernden Begriff des Populismus klären. Programmatisch ist der
Populismus durchaus flexibel, aber auch hier ist weniger der Inhalt als die
Form entscheidend: Der Populismus arbeitet mit der Konstruktion eines
Gegensatzes zwischen dem Volk und den Eliten. Wie es der
Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller plausibel herausgearbeitet hat, ist der
Kern der diversen Populismen ein Alleinvertretungsanspruch. Man artikuliere die
wahren Interessen und authentischen Werte des eigenen Volkes, der “kleinen
Leute”, der eigentlichen Deutschen, Franzosen, Amerikaner etc. Die Populisten
halten sich damit für die eigentlichen Demokraten, für diejenigen, die dem Volk
unmittelbar eine Stimme geben. Mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Orbán
gesprochen, ist das die Form einer illiberalen Demokratie: illiberal im Sinne
von antipluralistisch. Aus der Sicht der Populisten braucht man den liberalen
Pluralismus, die Artikulation unterschiedlicher Interessen und
unterschiedlicher Werte, die Verschiedenheit der Parteien und Verbände,
schließlich auch die Pluralität der Medien gar nicht, ja, ist ihnen feindlich
gesinnt. Denn es gilt ja: “Wir
repräsentieren das Volk.”

Im Gegensatz zur populistischen
Revolte geht die liberale Demokratie vom Pluralismus als Grundtatbestand
moderner Gesellschaften aus: Es gibt keinen einheitlichen Volkswillen, sondern
eine Vielfalt von Perspektiven, Interessen und Werten. Differenz und Dissens sind
der Normalfall. Es ist der Vorzug der liberalen Demokratie, den Widerstreit nicht
zuzukleistern, sondern zu artikulieren. Der radikalen Pluralität der
weltanschaulichen Perspektiven Raum zu geben, den Diskurs zu ermöglichen, das
politisch Strittige zum Thema zu machen, somit Fehler und Schwächen der
gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen – das ist die DNA der liberalen
Demokratie. Dies bedarf Institutionen – von Parlamenten über Gerichte bis zu
den Medien –, welche den Auseinandersetzungen einen zivilen Rahmen geben. So weit
das Modell der liberalen Demokratie. Anspruch und Wirklichkeit klaffen freilich
nicht selten auseinander.

Und hier kommt die Merkelsche Politik ins Spiel: Man sollte sicherlich
nicht allein der Person Angela Merkel dafür die Verantwortung geben, die lange
andauernden Phasen einer großen Koalition tun ein Übriges. Aber ein
grundsätzliches Problem des politischen Feldes der jüngsten Vergangenheit
besteht darin, dass die radikale Pluralität verkümmert, die Debatte um
politische Interessen und Werte verarmt ist. Das Motto der Alternativlosigkeit, an das wir uns gewöhnt haben, in Deutschland und
anderswo, ist Gift für die liberale Demokratie. Es verengt den Raum des
Politischen so, dass am Ende nur noch Problemverwaltung übrig bleibt. Vor allem
zwei Muster fallen ins Auge, mit deren Hilfe die Politik in den vergangenen Jahrzehnten
regelmäßig Alternativlosigkeit suggeriert hat: die Sachzwänge und die Moral.

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