Dieser Artikel ist erschienen auf unserer Schriftstellerplattform “Freitext”. Dort schreibt Katja Oskamp ihre Kolumne “Fußpflege in Marzahn”.
Laut statistischem
Jahrbuch ist der Anteil der stark Übergewichtigen, die man auch Adipöse nennt,
im Bezirk Marzahn-Hellersdorf der höchste von ganz Berlin. Er liegt bei 57,3
Prozent. Alle diese Menschen haben einen Body-Mass-Index von 30 und mehr. Kleine
Auffrischung: Der BMI errechnet sich aus Körpergewicht geteilt durch
Körpergröße im Quadrat. Wer einen BMI zwischen 18,5 und 25 hat, darf sich als normalgewichtig
bezeichnen. Aber von solchen dürren Leuten ist hier nicht die Rede.
In dem Marzahner Kosmetikstudio,
in dem ich zwei Tage die Woche der Fußpflege nachgehe, arbeiten außerdem meine
Chefin Tiffy und meine Lieblingskollegin Flocke. Tiffy ist hauptsächlich für
die Kosmetik zuständig. Sie ist vierundfünfzig und hat einen BMI von 27,2. Flocke
ist Nageldesignerin. Sie ist achtundfünfzig und hat einen BMI von 37,2. Ich bin
achtundvierzig und habe einen BMI von 28,0. Laut BMI-Tabelle der
Weltgesundheitsorganisation gehören Tiffy und ich in die Gruppe der
Übergewichtigen, manchmal werden wir auch mit Begriffen wie “Präadipositas”
oder “beginnende Fettleibigkeit” bedacht. Flocke ist adipös, Grad II.
An einem Donnerstag
Anfang Januar schlossen wir das Studio bereits um 16 Uhr. Ich kaufte beim
Netto-Bäcker vier Pfannkuchen, Flocke kochte Kaffee, Tiffy richtete in ihrem
Raum den Kaffeetisch her.
Kurz vor halb fünf parkte
Herr Wiesener seinen Audi neben unserem Hochhaus und entnahm dem Kofferraum
eine große Kiste, die er ins Studio schleppte. Herr Wiesener kam aus Wiesbaden
und sah aus wie eine männliche Halbedelnutte. Rosa Oberhemd, dunkelblaues Sakko
mit goldenen Knöpfen, enge Bluejeans, spitze Lederschuhe. Die kurzen Haare
akkurat geföhnt, die Haut von intensiver Carotin-Bräune, eine fein austarierte
Mischung aus Coolness und Biederkeit, geschätzter BMI: 21,7. Herr Wiesener öffnete die Kiste und brachte
ein sperriges Ding zum Vorschein, das aussah wie das Unterteil eines Kosmonautenanzugs.
Das war sie also: die Abnehmhose.
Während Herr Wiesener die
Abnehmhose auf Tiffys Kosmetikliege ausbreitete, erzählte er, heute sei sein
erster Arbeitstag, gerade sei er mit seiner Frau aus dem Urlaub zurück, zwei
Wochen Malediven, deshalb sei er so braun gebrannt. Er stöpselte die meterlangen
Kabelbüschel, die der Hose aus den Nähten sprossen, in eine Maschine, die einer
überdimensionalen elektronischen Ladenkasse ähnelte. An seiner perfekt
manikürten Rechten glänzte ein Ehering.
Die Abnehmhose, erklärte
Herr Wiesener uns dreien, die wir brav wie Schulmädchen nebeneinander saßen,
sei mit einem 24-teiligen überlappenden Luftdruckkammersystem
ausgestattet, an jedem Bein zwölf Kammern, welche sich je nach den eingegebenen
Parametern nach ausgetüftelten Algorithmen mit Luft füllten und wieder leerten.
Die Pumpstöße empfinde die Kundin als sehr angenehm, nicht umsonst seien
deutschlandweit bereits eintausend Abnehmhosen im Einsatz, allerdings sei diese
hier – Herr Wiesener tätschelte mit der beringten Hand den derben, abwaschbaren
Stoff – die erste in Marzahn. Tiffy und Flocke warfen sich einen zufriedenen
Blick zu und kauten, um Herrn Wiesener nicht zu stören, möglichst diskret an
ihren Pfannkuchen. Der Stoffwechsel steigere sich, fuhr er fort, während die
Kundin langsam entspanne und wegdämmere, auf 280 Prozent des Normalwerts. Fünfzig
Minuten in der Hose liegen, das sei wie fünf Kilometer joggen.
Zwei Drittel der
Kundinnen schlössen nach der ersten Kur direkt die nächste an und würden nach
der Abnehmhose süchtig. “Die Kundenhaltungsquote ist extrem hoch, gerade bei
Frauen.” Drei goldene Regeln gelte es zu beachten, um den Erfolg zu
garantieren. Erstens: Regelmäßigkeit (zehn bis zwölf Sitzungen in vier bis fünf
Wochen). Zweitens: Flüssigkeitszufuhr (mindestens zwei Liter in den ersten sechs
Stunden nach jeder Sitzung). Drittens: Kohlenhydratverbot (für mindestens vier
Stunden nach jeder Sitzung). Mir fiel auf, dass ich, wenn ich zweimal pro Woche
das Abendbrot wegließe, auch ohne Hose abnehmen würde, und dass Herr Wiesener
alle Zahlen mit den Fingern zeigte, auch die zwei- und dreistelligen.
Er ließ uns probeweise
die Knöpfe auf der Maschine drücken und nannte die Namen der Programme:
Lymphmassage, Sportmassage, Wohlfühlmassage, Hautstraffungsmassage und so
weiter. Dann wies uns Herr Wiesener in das “Hosenbeinschließsystem” ein, das
aus je drei robusten Reißverschlüssen und den damit herstellbaren Beinweiten
für dünne, normale und dicke Beine bestand. Er wolle uns zum Schluss ein paar
Verkaufsargumente an die Hand geben, mit denen wir die Kundin “final
überzeugen” würden.
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